“Zwei Leben in einer Nacht” ist bereits das dritte Jugendbuch der deutschen Autorin Carolin Wahl. Eine Geschichte über zwei junge Menschen, die sich beide das Leben nehmen wollen und über ein Internetforum an einer Challenge teilnehmen, die nach fünf zu erledigenden Aufgaben mit dem Tod enden soll. Ein Roman über Verzweiflung und Todessehnsucht, über eine zarte Annäherung, über Schicksalsschläge und Hoffnung, dass das Leben weitergeht. Ein sprachlich sehr schön erzähltes Buch. Unglaublich bewegend und berührend geschrieben. Aufgrund von immer wieder auftauchenden “Blue Whale Challenges” im Internet und auf sozialen Netzwerken — leider höchst aktuell. Aber ACHTUNG: keine leichte Kost! Für reife Jugendliche ab 14 Jahren und interessierte Erwachsene.
Sie treffen sich an den Bahngleisen. Caspar und Sam. Caspar dachte, dass Sam der Name eines Jungen sei und ist überrascht, dass Sam ein Mädchen ist. Sam, das Mädchen mit den blauen Haaren, kennt seinen richtigen Namen nicht, Caspar hat sich online nur Cyber genannt. “Mein echter Name. Glaubst du wirklich, es spielt eine Rolle, dass du ihn nicht kennst? Am Ende der Nacht sind wir beide sowieso tot.” (Zitat aus “Zwei Leben in einer Nacht” S.15) Denn nur deswegen sind sie hier. Um am Ende zu sterben. Sie haben sich beide in einem Internetforumnamens Deathwish angemeldet. “Freitag, der 13. Der Tag, auf den sie so lange gewartet hat. Auch wenn sie sich gleichzeitig davor gefürchtet hat, die Nachricht auf ihrem Handy zu finden. Bist du bereit? Die Einladung zu diesem Spiel. Spiel. Dabei ist es tödlicher Ernst. Jeder, der sich in Deathwish angemeldet hat, weiß das. Jeder darin ist bereit zum Äußersten zu gehen, jede Grenze auszutesten. Und den letzten Schritt in den Abgrund zu machen.” (Zitat S.38ff) Sie erhalten nun per Handy fünf Aufgaben, die sie zu erfüllen haben. Und am Ende der Nacht werden sie sterben. Gemeinsam. Das ist der Sinn bei Deathwish, weil man alleine am Ende eher noch einen Rückzieher macht, als zu Zweit. Das ist ihnen beiden klar. “Kurz fragt er sich, was wohl ihr Grund dafür ist, dass sie hier ist. Warum sie sich ausgerechnet für dieses Ende entschieden hat. Vielleicht, weil sie wie er selbst sämtliche Möglichkeiten durchgekaut hat. Den Strick. Den
Wald. Die Badewanne. Den Zug. Ein Messer. Eine Plastiktüte.” (Zitat S.18) Wie sie am Ende sterben werden, das wissen sie nicht. Das entscheidet Ghost, der anonyme Spielleiter, der den Tag ausgewählt hat und die zwei Personen bestimmt hat, die meist nicht allzu weit voneinander wegwohnen. “Es ist nur ein Spiel. […] Mehr nicht. Ein Spiel mit Regeln und einem klaren Ausgang.” Als sie nicht antwortet, fährt er fort und zeigt erst auf sich und dann auf sie: “Wir beide. Tot.” Seine Worte sind so schonungslos, dass sich eine Gänsehaut überall auf ihren Armen ausbreitet.” (Zitat S.13ff) Doch die Nacht ist noch lang. Und die erste Aufgabe, die vorsieht, dass sie heimlich in einen Friedhof einsteigen und sich für eine halbe Stunde in ein offenes Grab legen, lässt viel Zeit einander besser kennenzulernen. “Ich wollte einen Deal vorschlagen”, fährt er jetzt fort. “Wie wäre es, wenn wir nur ehrlich miteinander sind?
Heute? Also, egal, bei welchem Thema. Wir sagen uns immer die Wahrheit. Keine Lügen. Schließlich bist du der letzte Mensch, mit dem ich eine Unterhaltung führe, und irgendwie fände ich es traurig, wenn ich mit dem Gedanken sterbe, nicht wirklich ich selbst gewesen zu sein.” (Zitat S.94) Aber was wird sein, wenn sie einander besser kennen? Wird es dann einfach oder gar schwerer werden zu sterben? Und wollen sie das überhaupt?
“Zwei Leben in einer Nacht”, das mit einem faszinierenden, bereits das Thema andeutende Cover aufwartet, beginnt mit einer besonderen Widmung (“Für alle schwarzen Schafe in der weißen Herde”) und einer sehr sinnvollen Triggerwarnung, welche den Leser auf die Inhalte des Buches vorbereitet. Carolin Wahl hat ernste Themen ausgewählt: “Depression, Trauer, Tod, Suizid, Ängste”. Die Geschichte geht definitiv an die Substanz, da sie sich mit sehr existentiellen Themen beschäftigt. Bereits der erste Satz des Buches macht deutlich, hier wird nicht lange herumgezögert, der Leser wird sofort in die bedrückende Stimmung und mitten ins Geschehen hineingezogen: “Heute ist die Nacht, in der sie sterben wird. Sam lauscht in sich hinein, doch da ist nichts. Keine drückende Angst. Keine alles verschlingende Panik, nur ein Gefühl von Erleichterung. Es ist, als ob endlich eine riesige Bürde von ihren Schultern fällt.” (Zitat S.9) Caspar und Sam berichten in sich abwechselnden, in personaler Erzählweise geschriebene Perspektiven. Teilweise gibt es Rückblenden, die durch ein “Jetzt” und ein “Davor” gekennzeichnet werden. Auch Chatauszüge aus dem Forum, in dem sich beide angemeldet haben, werden abgedruckt. “Zwei Leben in einer Nacht” ist ein stellenweise sehr traurige
s Buch: “Eigentlich will ich nicht sterben”, sagt Caspar und gesteht sich und ihr mehr ein, als er ertragen kann. “Eigentlich will ich einfach nur nicht mehr leben.” (Zitat S.115). Es stellt zwei Protagonisten in den Mittelpunkt, die Schweres im Leben erlebt haben und über deren Hintergrundgeschichten man zunächst nur in Andeutungen erfährt, so wie beispielsweise bei Sam: “Bei dem Gedanken an ihre Schwester meldet sich wieder ihr schlechtes Gewissen, kratzt an ihrem Bewusstsein, doch sie schiebt es beiseite. Wie alles, was mit ihrer Familie zu tun hat.” (Zitat S.38) Erst allmählich wird mehr über sie verraten und ein immer komplexeres, tiefgründigeres Bild der Charaktere entsteht. Carolin Wahl erzählt die Geschichte auf sehr einfühlsame, sensible Weise, hat ein Händchen für ein langsames Entblättern der Wahrheit (die man irgendwann, wenn man sorgfältig
liest zu ahnen beginnt). Und sie verwendet eine sehr schöne Sprache: “Er selbst vergräbt die Hände in den Tiefen seiner Hosentaschen, auf der Suche nach etwas Halt. Um sie herum herrscht das einvernehmliche Schweigen einer Unterhaltung, die noch gar nicht richtig begonnen hat” (Zitat S.22) Dennoch ist “Zwei Leben in einer Nacht” kein einfaches Buch, sondern eine Geschichte, mit der man sich intensiv auseinandersetzen muss, auch mit zum Teil sehr heftigen Szenen (wie die der Selbstverletzung mittels einer Glasscherbe). Dass das kein Spaziergang ist, dessen sollte man sich vor Beginn der Lektüre bewusst sein. Dennoch ist es ein sehr wichtiges Buch, dies wird vor allem gegen Ende der Geschichte klar.
Dir gefällt Carolin Wahls Erzählstil? Dann lies unbedingt noch “Staat X: Wir haben die Macht!” von ihr, das mir sehr gut gefallen hat. Ihr erstes Jugendbuch war “Mondscheinküsse halten länger”. Sehr gut könnte ich mir auch “Für niemand” von Tobias Elsäßer vorstellen, hier verabreden sich ebenfalls drei Jugendliche über ein Internetforum zum gemeinsamen Suizid. Ein Junge und ein Mädchen, die gemeinsam sterben wollen und sich im Internet kennenlernen, das erlebst du außerdem (sehr lesenswert) in “Mein Herz und andere schwarze Löcher” von Jasmine Warga. Ein Thriller für Erwachsene über die “Blue Whale Challenges” ist “Ein Spiel für Gewinner” von Nadine D’Arachart und Sarah Wedler. Das “Davor” und “Jetzt” findest du ebenfalls in dem fesselnden “Jetzt ist alles, was wir haben” von Amy Giles. Dich interessieren mehr Romane über das Thema Suizid? Dann stöbere hier. Besondere Challenges findest du zudem in “Panic: Wer Angst hat, ist raus!”, “Nerve: Das Spiel ist aus, wenn wir es sagen” von Jeanne Ryan, “Gotcha!” von Shelley Hrdlitschka und “Butter” von Erin Jade Lange (heftig).
Bibliografische Angaben:Verlag: Loewe ISBN: 978-3-7432-0746-2 Erscheinungsdatum: 8.Oktober 2020 Einbandart: Taschenbuch Preis: 9,95€ Seitenzahl: 360 Übersetzer: - Originaltitel: - Originalverlag: - Originalcover: -
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