Die deutsche Autorin und Sprachvirtuosin Antonia Michaelis hat wieder ein neues Buch geschrieben: “Tankstellenchips: Ein Heldenepos” und zeigt sich damit von einer ganz neuen Seite. Entstanden ist eine Sommergeschichte mit Tiefgang; ein Roadmovie, bei dem man zwei Jungs quer durch Deutschland folgt und dabei ungemeinen Spaß hat. Ein Roman voller Klugheit, Ironie, Charme und Esprit. Für Fans von “Tschick” und alle anderen, die einfach richtig gut unterhalten werden wollen! Für Jugendliche ab 13 Jahren und für Erwachsene.
Sie kommen beide aus einem Heim. Der 8‑jährige Davy aus einem Kinderheim, aus dem er abgehauen ist. Und der 18-jährige Shayan aus einem Flüchtlingsheim. Schon seit einem Jahr lebt der Iraner mit dem Drei-Tagebart und dem Strohhut auf dem Kopf in Deutschland. Doch jetzt droht ihm die Abschiebung und er will von Usedom aus dringend nach Köln fahren, denn dort wartet eine letzte Hilfe auf ihn: seine Internetbekanntschaft Layla, deren Vater Anwalt ist und der ihm vielleicht noch helfen könnte. Doch bevor er losfahren kann, trifft Shayan, der nur Sean genannt wird, auf Davy. Sie beobachten beide zufällig ein paar Kriminelle bei einem Einbruch in ein Ferienhaus. “Die Schiebtür stand offen, und von dem Glas fehlte ein Stück — ein genau kreisrund ausgesägtes, handtellergroßes Stück neben dem Griff. Die Deutschen machen eben alles sehr ordentlich. Selbst das Einbrechen.” (Zitat S.13) Der unerwartet anwesende Besitzer des Hauses wird dabei von den Bösewichten angeschossen und die beiden Jungs eilen ihm zu Hilfe. Um kurz danach selbst die Flucht zu ergreifen. Denn was — wenn sie selbst für die Täter gehalten werden? Also nimmt Sean den kleinen Jungen, der sich nicht abschütteln lässt, kurzerhand mit in Richtung Köln. Davy will dort seinen Vater besuchen, der ihn eigentlich nicht haben will. “Er konnte nicht richtig sprechen, er konnte nicht lesen, er konnte auch nicht rechnen: Als ein Typ mit einem Fünfer bezahlte und der Kaffee zwei Euro kostete, sah Davy völlig ratlos aus. Aber da stand er, selbstsicher und fröhlich, und auf eine komische Art und Weise schien dort, wo er war, immer die Sonne.” (Zitat S.82ff) Und bald erleben die beiden Jungs die größten Abenteuer. Sie reisen per Anhalter, mit der deutschen Bahn, mit einem echten Pferd und sogar per Heißluftballon. Denn auf einmal wird Sean polizeilich gesucht: er hat seinen Ausweis verloren, ausgerechnet am Tatort des Einbruchs — in dem Ferienhaus, dessen Besitzer mittlerweile den Folgen seiner Schussverletzung erlegen ist. Und nun wird er nicht nur des Mordes bezeichnet, sondern soll auch für eine ganze Reihe an Einbrüchen auf Usedom zur Verantwortung gezogen werden! Dann sind ihnen auch noch die Kriminellen dicht auf den Fersen, die die zwei Jungs unbedingt zum Schweigen bringen wollen…
Antonia Michaelis hat in “Tankstellenchips: Ein Heldenepos” zwei ganz wunderbare Charaktere geschaffen: Davy und Sean. Zwei Anti-Helden, die irgendwie doch ein bisschen heldenhaft erscheinen, die liebenswert und sympathisch sind und die man einfach nur in sein Herz schließen kann! Wie sie von einem Fettnäpfchen ins Nächste treten und eine Spur der unfreiwilligen Zerstörung durch das Land ziehen, das liest sich mit unheimlich viel Humor. Da werden schon mal versehentlich Stiere freigelassen, die ein Erdbeerfeld zerstören oder es explodiert eine Kaffeemaschine beim Befüllen mit den falschen Bohnen. Dazwischen immer wieder Kühe, die an den unmöglichsten Stellen auftauchen und für Chaos sagen. Dies zeigt bereits der erste Satz des Buches, im “Kapitel 0”, mit dem der Roman startet: “Der Anfang vom Ende beginnt damit, dass ich auf einem Autodach stehe.” (Zitat S.7) Umringt von Kühen und das Polizeiauto fährt bereits direkt auf die beiden zu. Dann beginnt das Buch mit dem ersten Kapitel, das erzählt, was alles zuvor geschah. Und interessanterweise wird jedes Kapitel mit einem Gericht oder einem Lebensmittel bezeichnet (z.B. “Erdbeeren”, “Wurstgulasch” oder “Rohkotzsalat”). Erzählt wird die Geschichte aus Sean’s Sicht in der Ich-Perspektive, der am liebsten der Held eines Films wäre und sich manche Dinge, die er erlebt als Teil einer Filmszene vorstellt, die seine Familie daheim — auf dem Sofa sitzend und mit Knabbereien in der Hand — gerade ansieht. Von seinem Vater wird er für einen Versager gehalten, dabei möchte er doch einfach nur ein Held sein und einmal alles richtig machen. Und so entstehen für den Leser manch köstliche Szenen, bei denen Sean zum Beispiel am Ticketschalter der Deutschen Bahn um ein Ticket feilscht oder in einem Café mit persischem Tee dafür sorgt, dass die Menschen an den Tischen plötzlich zusammenrücken. Neben jeder Menge Lokalkolorit und vielen Städten, die bereist und deren Sehenswürdigkeiten erwähnt werden, tauchen auch immer wieder Charakterisierungen der Deutschen auf: “Es gibt immer Fahrradständer. […] Das liegt am ökologischen Gewissen der Menschen hier. Wenn die Deutschen Fahrradständer sehen, haben sie das Gefühl, sie könnten theoretisch mit dem Fahrrad gekommen sein und so den weltweiten CO₂-Ausstoß verringert haben, und dann sind sie glücklich.” (Zitat S.19) und “Sandwiches heißen in Deutschland Stulle und sind aus dunklem Brot voller Körner. Wenn man es kaut, ist es, als würde man in einen Kiesweg beißen.” (Zitat S.34) Mit schlichter, bestechender Klugheit zeichnet Antonia Michaelis das Bild der Deutschen, wie es von einem Landesfremden wahrgenommen werden könnte und trifft den Nagel zuweilen direkt auf den Kopf: “..in Deutschland gibt es beinahe alles tiefgekühlt, man muss es nur auftauen: Pizza, frische Himbeeren, ganze Reisgerichte. Schade, dass es keine Zeit gibt, die man einfrieren kann, die könnten die ewig gehetzten Deutschen sich kaufen und bei Bedarf herausholen und in die Mikrowelle stellen.” (Zitat S.79) Jedoch bekommen zum Beispiel auch die Japaner ihr Fett weg: “Auf dem Domplatz standen Japaner und fotografierten sich mit Selfie-Sticks, alle einzeln, obwohl es bequemer gewesen wäre, sich gegenseitig zu fotografieren.” (Zitat S.172) Eine sprachliche Besonderheit ist auch, dass Davy einen Sprachfehler hat und manch grammatikalisch unkorrekte Sätze von sich gibt, die ihn aber umso sympathischer machen. Und dass Sean ebenfalls mit der deutschen Sprache noch so einige Schwierigkeiten hat und so viel Situationskomik entsteht: “Sie ist meine Bruder!” “Sie ist für Mädchen!”, schnaubte ein anderer. […] “Sie ist für Sachen mit ‑in”, knurrte Pavel störrisch. “Okay, okay”, lenkte ich ein. “Sie ist meine Bruderin.” (Zitat S.51ff) Warum Sean übrigens aus dem Iran geflüchtet ist, das erfährt man erst nach und nach. Am liebsten würde er hierzu einen Heldengeschichte erfinden, aber die gibt es nicht. Dafür jede Menge Andeutungen zu dem, was geschehen ist und einem Geheimnis, das erst am Ende gelüftet wird. Der Ausgang des Buches: passend und schön.
Fazit: Herzerwärmend und höchst amüsant!
PS: Ein Blick unter den Einband offenbart eine besondere Überraschung;-)
Du magst Roadmovies? Davon gibt es jede Menge im Jugendbuch. Allen voran natürlich das bekannte “Tschick” von Wolfgang Herrndorf. Etwas skurriler sind auch “Abgefahren” von Dirk Pope und “Der Sommer, in dem ich die Bienen rettete” von Robin Stevenson. Oder lies “Die erste Liebe (nach 19 vergeblichen Versuchen)” von Bestsellerautor John Green. Den Peter-Härtling-Preis 2017 erhalten hat “Strom auf der Tapete” von Ada Badey und Claudia Kühn. Richtig klasse fand ich auch die zwei Roadmovies “Die Königinnen der Würstchen” von Clémentine Beauvais und “Glücksdrachenzeit” von Katrin Zipse, die beide in Frankreich spielen. Natürlich kannst du auch noch alle anderen Jugendbücher von Antonia Michaelis lesen, die wirklich richtig tolle Bücher schreibt und davon unzählige geschrieben hat. Hier ihre Jugendbücher chronologisch nach Erscheinungsdatum: “Mike und ich und Max Ernst” (2003) “Die wunderliche Reise von Oliver und Twist” (2003), “Morgenstern” (2004), “Das Adoptivzimmer” (2004), “Tigermond” (2005), “Das Geheimnis des 12.Kontinents” (2007), “Laura und der Silberwolf” (2007), “Drache der Finsternis” (2008), “Die Nacht der gefangenen Träume” (2008), “Jenseits der Finsterbachbrücke” (2009),“Wenn der Windmann kommt” (2009), “Die geheime Reise der Mariposa” (2010), “Der Märchenerzähler” (2011), “Wolfsgarten” (2011), “Die Worte der weißen Königin” (2011), “Solange die Nachtigall singt” (2012), “Nashville oder Das Wolfsspiel” (2013), “Niemand liebt November” (2014), “Das Blaubeerhaus” (2015), “Die Attentäter” (2016) und “Grenzlandtage” (zusammen mit Peer Martin, 2016), “Wind und der geheime Sommer” (2018).
Bibliografische Angaben: Verlag: Oetinger ISBN: 978-3-7891-0918-8 Erscheinungsdatum: 23.Juli 2018 Einbandart: Hardcover Preis: 18,00€ Seitenzahl: 368 Übersetzer: - Originaltitel: - Originalverlag: - Originalcover: -
Kasimiras Bewertung:
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