Endlich wieder neues Lesefutter von der Meisterin des Erzählens: Die deutsche Autorin Antonia Michaelis entführt ihre Leser in “Im Auge des Leuchtturms” an die raue Nordsee auf eine kleine Insel nahe Amrum. In ihrem Krimi drängt sich die Vergangenheit unaufhaltsam in das wohl sortierte Leben einer Karrierefrau und bringt diese dazu, sich hiermit auseinanderzusetzen. Sprachlich brillant. Dicht erzählt und sehr atmosphärisch. Für Erwachsene und Jugendliche ab 16 Jahren.
Die 36-jährige Nathalie Schwarz, genannt Nada, hat ihr Leben perfekt im Griff. Zusammen mit dem homosexuellen Frank hat sie eine Restaurantkette in Berlin eröffnet — Häuser, die vor Licht nur so erstrahlen und in aller Munde sind. 19-Stunden-Tage sind für sie normal. Urlaub hat sie schon seit über zehn Jahren nicht mehr gemacht. Freunde zu haben, damit hat Nada schon seit Längerem aufgehört, für die hätte sie — so wie für ihre Eltern — ohnehin keine Zeit. Jede Minute ihres Lebens ist durchgetaktet. Sie hat alles bis ins kleinste Detail geplant und organisiert alles und jeden. Dazu helfen ihr vor allem ihre drei Terminplaner und ihre Listen, die sie sich schreibt: “Durch die Listen konnte sie gleichzeitig befehlen und gehorchen, sie war ihre eigene Herrin, indem sie die Listen schrieb, und ihre eigene Sklavin, indem sie sie abarbeitete, und wenn sie es nicht in der vorgesehenen Zeit schaffte, konnte sie sich selbst bestrafen, indem sie sich die Abarbeitung einer weiteren Liste befahl: eine Art autoerotisches Sadomasospiel — allerdings ohne jeden erotischen Reiz.” (Zitat aus “Im Auge des Leuchtturms” S.51) Bis eines Tages eine Postkarte auftaucht, die alles verändert. Nada kennt nämlich niemanden, der ihr eine Postkarte schreiben könnte. Und doch kommt ihr das Motiv darauf — ein Leuchtturm — seltsam bekannt vor. Die Karte ist mit einem salzenen Rand versehen, als wäre sie nass gewesen, nass von Meereswasser. Darauf steht: “Komm her. Es ist wichtig, dass du kommst. Man kann bis hinter den Horizont sehen, wenn man ganz leise ist. Das alte Ferienhaus steht leer. Die Dunkelheit ist noch da. Komm trotzdem. Vergiss, was geschehen ist. Ich brauche einen Anker. Frage dich nicht, wer ich bin. Ich warte.” (Zitat S.10) Plötzlich hört Nada Meeresrauschen, wo kein Meeresrauschen sein kann und die Stimmen einer Vergangenheit, derer sie sich nicht entsinnen kann, drängen sich in ihr auf. Nach einem Zusammenbruch und der Erkenntnis, dass ihre Eltern ein Ferienhaus auf einer kleinen Insel nahe Amrum besitzen, beschließt Nada dem Ganzen auf die Spur zu gehen…
“Im Auge des Leuchtturms” wird hauptsächlich aus Nadas Perspektive berichtet, nur zuweilen ist es Franks Sicht und die einiger Nebenfiguren, die beschrieben werden. Antonia Michaelis spielt auf interessante Weise mit den Elementen Licht und Dunkelheit, sie schafft mehrere Ebenen in einem Roman, was mich zeitweise ein wenig an ihren Erfolgstitel “Der Märchenerzähler” erinnerte. Was ist Traum? Was ist Realität? Die Grenzen sind fließend und das Geheimnisvolle durchzieht das Buch wie ein roter Faden. Die Protagonistin gleicht eher einer Maschine, die nur funktioniert, ist äußerst distanziert und emotionslos: “Nada hatte keine Beziehung zu ihren Kleidern. Sie mochte die Herrenschlafanzüge nicht, und sie mochte sie nicht nicht. Mit den Herren, mit denen sie bisweilen schlief, war es genauso.” (Zitat S.12) Es ist faszinierend zu verfolgen, wie sich etwas Weiches, Zartes in ihr nach oben kämpft, das sie lange Zeit unterdrückt und versteckt hat: “Da war etwas Weiches in all ihrer Härte, etwas Winziges, Schimmerndes, manchmal sah er es in ihren Augen, unter der schroffen Oberfläche, ein Stück einer anderen, lange vergessenen, verlorenen Nada. […] Etwas war geschehen, vor langer Zeit, das sie zu dem gemacht hatte, was sie war. Etwas, an das sie sich womöglich nicht erinnerte.” (Zitat S.140/141) Es ist der Kampf dafür sich endlich wieder zu erinnern, den Nada führt, aber zugleich auch der Kampf gegen die dadurch entstehende Verletzlichkeit, die sie immer wieder in sich spürt. Es sind die Stärke, die Kontrolle und die Macht über ihr gut funktionierendes Leben, die sie so schnell und so bedingungslos einfach nicht aufgeben möchte: “…“Halt mich fest”. Es war ihr unangenehm, daran zu denken, dass sie das gesagt hatte. […] Lächerlich. Niemand konnte sie festhalten. Sie war stark genug, sich selbst festzuhalten, sie war stärker als die anderen, viel stärker. Sie war Nada Schwarz. Verdammt, sie hatte beinahe ein Leben lang daran gearbeitet, Nada Schwarz zu werden und zu sein.” (Zitat S.225)
Der Prozess des Erinnerns ist nicht immer einfach, viele Elemente spielen hierbei eine Rolle, aber vor allem ihre Träume, in denen sie jedes Mal in einem Leuchtturm erwacht, der mit Kisten von unaufgebauten, funktionslosen IKEA-Möbeln vollgestellt ist, die Nada versucht zusammenzusetzen. In diesem Leuchtturm gibt es auch ein Telefon, das immer wieder klingelt und jedes Mal an einem anderen Ort steht. Der Anrufer ist ein namenloses Kind, das in einem dunklen Raum eingesperrt zu sein scheint. Und bald taucht da auch noch dieser Mann auf, den der Sturm herbeigeweht hat…
Sprachlich gesehen ist das Buch wieder äußerst brillant geschrieben, ein vielschichtiger Krimi auf literarisch hohen Niveau, der packend, zuweilen dramatisch und nicht so einfach zu durchschauen ist. Erst allmählich entsteht eine Ahnung, was damals Furchtbares geschehen sein könnte. Dem Nachzufolgen wird vor allem gegen Ende unheimlich spannend!
Fazit: Definitiv eine Lektüre, die sich zu lesen lohnt!
Antonia Michaelis hat noch einen Krimi für Erwachsene geschrieben: “Friedhofskind”, die aber beide völlig unabhängig voneinander sind. Ebenfalls für Erwachsene ist “Paradies für alle” (das mir sehr gut gefallen hat) und “Das Institut der letzten Wünsche”. Jugendbücher ab 15⁄16 Jahren von ihr sind “Der Märchenerzähler” (herausragend, eines ihrer besten Bücher!), “Die Worte der weißen Königin” (berührend!), “Solange die Nachtigall singt” (klasse!), “Nashville oder das Wolfsspiel” (hat mir nicht ganz so gut gefallen), “Niemand liebt November” (toll!). Wenn du inhaltliche Alternativen zu “Im Auge des Leuchtturms” lesen möchtest, dann könnte “Scherbenmädchen” von Liz Coley etwas für dich sein, in dem sie Hauptfigur ebenfalls an etwas zerbrochen ist, das vor einiger Zeit geschehen ist und das sie Stück für Stück verarbeiten muss. Sprachlich auch brillant erzählt und gleichzeitig eine Suche nach der Vergangenheit ist “Zertrennlich” von Saskia Sarginson. Sich an ihre Kindheit langsam zurückerinnern, das müssen ebenso die Hauptfiguren in “Schattengrund” von Elisabeth Herrmann, “Die einzige Zeugin” von Anne Cassidy und “Shine” von R.A. Nelson.
Bibliografische Angaben: Verlag: Emons ISBN: 978-3-95451-675-9 Erscheinungsdatum: 16.Juli 2015 Einbandart: Broschur Preis: 14,95€ Seitenzahl: 312 Übersetzer: - Originaltitel: - Originalverlag: - Originalcover: -
Kasimiras Bewertung:
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