Antje Wagner — Schattengesicht

Antje Wagner - Schattengesicht27.Februar 2018

In einer Neu­auf­la­ge erschie­nen ist “Schat­ten­ge­sicht” von der deut­schen Autorin Ant­je Wag­ner im Ulri­ke Hel­mer Ver­lag. Ein Psy­cho­thril­ler der beson­de­ren Art über zwei Frau­en auf der Flucht und einer Rei­se zu den Schre­cken der Ver­gan­gen­heit. Geheim­nis­voll, aber gekonnt und äußerst raf­fi­niert erzählt. Bes­te Unter­hal­tung für Leser außer­ge­wöhn­li­cher Bücher! Ab 16 Jah­ren und für Erwachsene.

Pol­ly und Mila­na sind auf der Flucht. Schon seit eini­ger Zeit. “Als wir vor andert­halb Jah­ren auf­ge­bro­chen waren, hat­te ich geglaubt, zu irgend­ei­ner spä­te­ren Stun­de, in irgend­ei­ner fer­ne­ren Stadt zu unse­rem ver­trau­ten Leben zurück­keh­ren zu kön­nen. […] Aber die Städ­te wech­sel­ten, die Zeit ver­geht, das Leben ver­si­ckert wie Was­ser im Aus­guss, und plötz­lich wird einem klar, dass man einem Phan­tom nach­läuft. Dass das alte Leben nir­gends auf einen war­tet. Dass es ein­fach nicht mehr da ist. (Zitat aus “Schat­ten­ge­sicht” S.26) Das Leben ist für die bei­den nicht gera­de ein­fach gewor­den. Vor allem wenn man gesucht wird: “An der Säu­le kleb­te ein Pla­kat mit Pol­lys Gesicht und ihrer Per­so­nen­be­schrei­bung. Ihr schwar­zes Haar war damals noch lang.” (Zitat S.16) Mila­na arbei­tet jetzt in einem Hotel, in dem sie einen Job als Zim­mer­mäd­chen gefun­den hat. Nor­ma­ler­wei­se küm­mert man sich dort im Schnitt um acht Zim­mer, aber Mila­na hat 13 Stück ange­nom­men. Die Bezah­lung ist lau­sig und seit ihre Che­fin sie im Antje Wagner SchattengesichtVisier hat, ihre Arbeit stän­dig über­prüft und sie schi­ka­niert, ist es noch schwie­ri­ger gewor­den. Doch sie sind auf das Geld ange­wie­sen. Pol­ly wür­de am liebs­ten zurück­ge­hen. Zurück nach Schwe­den. “Du wür­dest also zurück­ge­hen und mit einer Lei­che im Kel­ler leben? “Im Anbau, nicht im Kel­ler! Und wir müs­sen nicht in den Anbau gehen.” Sie sank im Ses­sel zusam­men. “Außer­dem hast du das Haus geliebt”, flüs­ter­te sie. “Weißt du das nicht mehr?” (Zitat S.24) Aber Mila­na weiß, dass sie nicht mehr zurück­keh­ren kön­nen. Und es ist nur noch eine Fra­ge der Zeit, wann sie die Stadt wie­der ver­las­sen müs­sen. Stän­dig fühlt sie sich ver­folgt. Nimmt Abkür­zun­gen auf dem Weg nach Hau­se, geht durch die Hin­ter­ein­gän­ge von Geschäf­ten, um mög­li­che Ver­fol­ger abzu­schüt­teln. Momen­tan leben sie und Pol­ly in einem schloss­ähn­li­chen, her­un­ter­ge­kom­me­nen Miets­haus, zu dem nicht ein­mal Bah­nen oder Bus­se fah­ren. Über die Wän­de zog sich eine Wol­ken­land­schaft aus Schim­mel...[…] tas­te­te sich vor­wärts und ent­fal­te­te sich zu einem groß­flä­chi­gen Kunst­werk aus Gift.” Nur im obe­ren Stock­werk nicht, dort wo sie sich in einer Woh­nung ein­ge­nis­tet haben. Pol­ly bleibt haupt­säch­lich dort. Sie kocht Gerich­te, aber nur im Kopf oder übt mit geschlos­se­nen Augen durch die Zim­mer zu lau­fen, falls sie eines Tages mal blind wer­den soll­te. Pol­ly ist exzen­trisch und anders. Sagt, was sie denkt und singt auf der Stra­ße. Aber sie ist sel­ten drau­ßen. “Sämt­li­che Tische hat­ten jetzt ihre Gesprä­che unter­bro­chen. Ich press­te die Lip­pen auf­ein­an­der. Immer. Es war immer das­sel­be. Egal, ob in der Dis­co oder im Super­markt. Oder im Cam­pus in Pots­dam, wo wir wohn­ten. Dort konn­te ich mit Pol­ly nir­gends mehr hin.” (Zitat S.47) Doch dann wer­den die Schi­ka­nen von Mila­nas Che­fin immer hef­ti­ger und Pol­ly kommt aus ihrem Schne­cken­loch. Das hat unge­ahn­te Folgen…

Antje Wagner SchattengesichtSchat­ten­ge­sicht” wird durch­ge­hend aus der Ich-Per­spek­ti­ve und aus Mila­nas Sicht erzählt und scho­ckiert den Leser bereits am Ende des ers­ten Kapi­tels mit einem Geständ­nis: “Ich habe jeman­den umge­bracht.” (Zitat S.11) Das Buch, das in sechs Tei­len geschrie­ben ist, ver­rät im ers­ten Teil nicht nur, was sie getan hat, son­dern auch, dass Mila­na sich nun im Gefäng­nis befin­det. Was ist pas­siert? Wen hat sie umge­bracht? Teil zwei setzt zwei Mona­te zuvor ein. Und eben­falls hier ist die Geschich­te durch­zo­gen von einem Geflecht aus Fra­gen: Wer ist Vin­cent? War­um sind sie “seit der Sache mit Vin­cent” (Zitat S.17) auf der Flucht? Was ist damals gesche­hen? Wie­so liegt eine Lei­che in dem Haus in Schwe­den? Inter­es­san­ter­wei­se wird der Thril­ler, der mir gefühls­mä­ßig eher wie ein Roman erschien, rück­wärts erzählt und macht in jedem Teil einen Zeit­sprung zurück. Andert­halb Jah­re zuvor, fünf Jah­re zuvor, elf Jah­re zuvor, bis hin zu vier­zehn Jah­ren spä­ter. Das gibt einen sehr fas­zi­nie­ren­den Blick­win­kel auf die Cha­rak­te­re und deren Ent­wick­lung, aber vor allem geht es weit zurück in die Ver­gan­gen­heit, um den Geheim­nis­sen der Haupt­per­so­nen nach­zu­spü­ren. Mir gefällt vor allem Ant­je Wag­ners Erzähl­stil, ihre Art zu beschrei­ben, mit teils lite­ra­ri­schen For­mu­lie­run­gen, die man sich am liebs­ten unter­strei­chen möch­te: “Kurz geht mein Blick aus dem Fens­ter, in den zer­wühl­ten Him­mel, rutscht ab und prallt gegen die Mau­er, die unser Gelän­de hier umzieht.” (Zitat S.10) Zudem ver­wen­det sie eine sehr bild­haf­te Spra­che, die mit gut gewähl­ten Ver­glei­chen die Vor­stel­lungs­kraft des Lesers för­dert: “Man sieht den Hof, den Rasen, die Wäsche­rei und die Antje Wagner Schattengesichtangren­zen­den Wirt­schafts­ge­bäu­de. Dar­über der Him­mel wie ein auf­ge­häng­ter Lap­pen. Kein ruhi­ges, gleich­mä­ßi­ges Grau, son­dern so ein Drecks­grau. So ein Wasch­ma­schi­nen­ab­was­ser­grau, wenn es aus dem Schlauch ins Wasch­be­cken schießt.” (Zitat S.8) Die Geschich­te kennt eben­so lei­se Töne, ist aber immer mit­rei­ßend und unter­halt­sam geschrie­ben. Atmo­sphä­risch dicht und von manch sprö­der Schön­heit: “Man­che Woh­nungs­tü­ren fehl­ten, und die schwar­zen Öff­nun­gen schie­nen nach dem Licht zu schnap­pen. Sie ström­ten einen dump­fen, unde­fi­nier­ba­ren Geruch aus. Ein böser Kin­der­traum von einem Schloss. Kein Laut dar­in. Nichts. Das Haus war von Anfang an so still gewe­sen, als läge es im Ster­ben.” (Zitat S.18) Sehr beein­druckt hat mich außer­dem die Art, wie die Autorin mit ihren Lesern spielt, wie sie sie mit her­vor­ra­gen­den Täu­schun­gen hin­ters Licht führt. Das Ende ist bril­lant und lässt viel Raum noch für eige­ne Gedanken.

Fazit: Ein lite­ra­ri­sches und erzäh­le­ri­sches Kunst­werk, das sich defi­ni­tiv zu lesen lohnt!

Du magst Ant­je Wag­ners Erzähl­stil? Dann lies noch ande­ren Bücher von ihr. Ihre Jugend­bü­cher sind “Unland” (2009) und “Vaku­um” (2014). Für Erwach­se­ne sind unter ande­rem “Mot­ten­licht (Kurz­ge­schich­ten)” (2003) und “Hin­ter dem Schlaf” (2005). LesealternativenGanz neu ist “Der Schein”, das sie zusam­men mit Tania Wit­te unter dem Pseud­onym Ella Blix geschrie­ben hat — rich­tig schön fes­selnd! Du magst Geschich­ten, die sich lang­sam ent­fal­ten und weit zurück in die Ver­gan­gen­heit rei­chen? Dann wäre “Zer­trenn­lich” von Saskia Sar­gin­son etwas für dich. Sehr kunst­voll schreibt auch Anto­nia Michae­lis, die ein Geheim­nis um drei Schwes­tern in “Solan­ge die Nach­ti­gall singt” erst am Ende lüf­tet. Eine Neu­erschei­nung, in der eben­falls zu Beginn bereits ein Mord gestan­den wird, ist “Bloo­dy Weekend” von M.A. Ben­nett. Bücher, die mich vom Aus­gang der Geschich­te her, sehr stark an “Schat­ten­ge­sicht” erin­nert haben, sind ««««««ACHTUNG SPOILER:»»»»»» zum Bei­spiel: “Böser Bru­der, toter Bru­der” von Narin­der Dha­mi, “Tote Mäd­chen schrei­ben kei­ne Brie­fe” von Gail Giles, “1000 Mal gedenk ich dein” von Hei­ke Eva Schmidt, “Böse, böse” von Eliza­beth Woods, “Feu­er­schwes­ter” von Emi­ko Jean und “Als ich dich such­te” von Lau­ren Oli­ver. ««««««ENDE SPOILER»»»»»»

Bibliografische Angaben:
Schilder was wo wer wannVerlag: Ulrike Helmer
ISBN: 978-3-89741-413-6
Erscheinungsdatum: 1.Februrar 2018
Einbandart: Broschur
Preis: 12,00€ 
Seitenzahl: 190 
Übersetzer: -
Originaltitel: - 
Originalverlag: Querverlag

Originalcover: 
Antje Wagner Schattengesicht












Lizenzausgabe im Bloomsbury Verlag:
Antje Wagner Schattengesicht

Kasimiras Bewertung:

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(4,5 von 5 mög­li­chen Punkten)

4 Kommentare

  1. Antje Wagner

    Vie­len, vie­len Dank für die­se wun­der­schö­ne Rezen­si­on. Ich bin total stolz, so schön von dir bespro­chen zu sein. :-)

    Antworten
    1. Kasimira (Beitrag Autor)

      Ger­ne… tol­le Bücher krie­gen halt auch tol­le Rezen­sio­nen;-) wei­ter so! Bin gespannt aufs nächs­te Buch

      Lg Kasi­mi­ra

      Antworten
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