In einer Neuauflage erschienen ist “Schattengesicht” von der deutschen Autorin Antje Wagner im Ulrike Helmer Verlag. Ein Psychothriller der besonderen Art über zwei Frauen auf der Flucht und einer Reise zu den Schrecken der Vergangenheit. Geheimnisvoll, aber gekonnt und äußerst raffiniert erzählt. Beste Unterhaltung für Leser außergewöhnlicher Bücher! Ab 16 Jahren und für Erwachsene.
Polly und Milana sind auf der Flucht. Schon seit einiger Zeit. “Als wir vor anderthalb Jahren aufgebrochen waren, hatte ich geglaubt, zu irgendeiner späteren Stunde, in irgendeiner ferneren Stadt zu unserem vertrauten Leben zurückkehren zu können. […] Aber die Städte wechselten, die Zeit vergeht, das Leben versickert wie Wasser im Ausguss, und plötzlich wird einem klar, dass man einem Phantom nachläuft. Dass das alte Leben nirgends auf einen wartet. Dass es einfach nicht mehr da ist.” (Zitat aus “Schattengesicht” S.26) Das Leben ist für die beiden nicht gerade einfach geworden. Vor allem wenn man gesucht wird: “An der Säule klebte ein Plakat mit Pollys Gesicht und ihrer Personenbeschreibung. Ihr schwarzes Haar war damals noch lang.” (Zitat S.16) Milana arbeitet jetzt in einem Hotel, in dem sie einen Job als Zimmermädchen gefunden hat. Normalerweise kümmert man sich dort im Schnitt um acht Zimmer, aber Milana hat 13 Stück angenommen. Die Bezahlung ist lausig und seit ihre Chefin sie im Visier hat, ihre Arbeit ständig überprüft und sie schikaniert, ist es noch schwieriger geworden. Doch sie sind auf das Geld angewiesen. Polly würde am liebsten zurückgehen. Zurück nach Schweden. “Du würdest also zurückgehen und mit einer Leiche im Keller leben? “Im Anbau, nicht im Keller! Und wir müssen nicht in den Anbau gehen.” Sie sank im Sessel zusammen. “Außerdem hast du das Haus geliebt”, flüsterte sie. “Weißt du das nicht mehr?” (Zitat S.24) Aber Milana weiß, dass sie nicht mehr zurückkehren können. Und es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann sie die Stadt wieder verlassen müssen. Ständig fühlt sie sich verfolgt. Nimmt Abkürzungen auf dem Weg nach Hause, geht durch die Hintereingänge von Geschäften, um mögliche Verfolger abzuschütteln. Momentan leben sie und Polly in einem schlossähnlichen, heruntergekommenen Mietshaus, zu dem nicht einmal Bahnen oder Busse fahren. “Über die Wände zog sich eine Wolkenlandschaft aus Schimmel...[…] tastete sich vorwärts und entfaltete sich zu einem großflächigen Kunstwerk aus Gift.” Nur im oberen Stockwerk nicht, dort wo sie sich in einer Wohnung eingenistet haben. Polly bleibt hauptsächlich dort. Sie kocht Gerichte, aber nur im Kopf oder übt mit geschlossenen Augen durch die Zimmer zu laufen, falls sie eines Tages mal blind werden sollte. Polly ist exzentrisch und anders. Sagt, was sie denkt und singt auf der Straße. Aber sie ist selten draußen. “Sämtliche Tische hatten jetzt ihre Gespräche unterbrochen. Ich presste die Lippen aufeinander. Immer. Es war immer dasselbe. Egal, ob in der Disco oder im Supermarkt. Oder im Campus in Potsdam, wo wir wohnten. Dort konnte ich mit Polly nirgends mehr hin.” (Zitat S.47) Doch dann werden die Schikanen von Milanas Chefin immer heftiger und Polly kommt aus ihrem Schneckenloch. Das hat ungeahnte Folgen…
“Schattengesicht” wird durchgehend aus der Ich-Perspektive und aus Milanas Sicht erzählt und schockiert den Leser bereits am Ende des ersten Kapitels mit einem Geständnis: “Ich habe jemanden umgebracht.” (Zitat S.11) Das Buch, das in sechs Teilen geschrieben ist, verrät im ersten Teil nicht nur, was sie getan hat, sondern auch, dass Milana sich nun im Gefängnis befindet. Was ist passiert? Wen hat sie umgebracht? Teil zwei setzt zwei Monate zuvor ein. Und ebenfalls hier ist die Geschichte durchzogen von einem Geflecht aus Fragen: Wer ist Vincent? Warum sind sie “seit der Sache mit Vincent” (Zitat S.17) auf der Flucht? Was ist damals geschehen? Wieso liegt eine Leiche in dem Haus in Schweden? Interessanterweise wird der Thriller, der mir gefühlsmäßig eher wie ein Roman erschien, rückwärts erzählt und macht in jedem Teil einen Zeitsprung zurück. Anderthalb Jahre zuvor, fünf Jahre zuvor, elf Jahre zuvor, bis hin zu vierzehn Jahren später. Das gibt einen sehr faszinierenden Blickwinkel auf die Charaktere und deren Entwicklung, aber vor allem geht es weit zurück in die Vergangenheit, um den Geheimnissen der Hauptpersonen nachzuspüren. Mir gefällt vor allem Antje Wagners Erzählstil, ihre Art zu beschreiben, mit teils literarischen Formulierungen, die man sich am liebsten unterstreichen möchte: “Kurz geht mein Blick aus dem Fenster, in den zerwühlten Himmel, rutscht ab und prallt gegen die Mauer, die unser Gelände hier umzieht.” (Zitat S.10) Zudem verwendet sie eine sehr bildhafte Sprache, die mit gut gewählten Vergleichen die Vorstellungskraft des Lesers fördert: “Man sieht den Hof, den Rasen, die Wäscherei und die
angrenzenden Wirtschaftsgebäude. Darüber der Himmel wie ein aufgehängter Lappen. Kein ruhiges, gleichmäßiges Grau, sondern so ein Drecksgrau. So ein Waschmaschinenabwassergrau, wenn es aus dem Schlauch ins Waschbecken schießt.” (Zitat S.8) Die Geschichte kennt ebenso leise Töne, ist aber immer mitreißend und unterhaltsam geschrieben. Atmosphärisch dicht und von manch spröder Schönheit: “Manche Wohnungstüren fehlten, und die schwarzen Öffnungen schienen nach dem Licht zu schnappen. Sie strömten einen dumpfen, undefinierbaren Geruch aus. Ein böser Kindertraum von einem Schloss. Kein Laut darin. Nichts. Das Haus war von Anfang an so still gewesen, als läge es im Sterben.” (Zitat S.18) Sehr beeindruckt hat mich außerdem die Art, wie die Autorin mit ihren Lesern spielt, wie sie sie mit hervorragenden Täuschungen hinters Licht führt. Das Ende ist brillant und lässt viel Raum noch für eigene Gedanken.
Fazit: Ein literarisches und erzählerisches Kunstwerk, das sich definitiv zu lesen lohnt!
Du magst Antje Wagners Erzählstil? Dann lies noch anderen Bücher von ihr. Ihre Jugendbücher sind “Unland” (2009) und “Vakuum” (2014). Für Erwachsene sind unter anderem “Mottenlicht (Kurzgeschichten)” (2003) und “Hinter dem Schlaf” (2005). Ganz neu ist “Der Schein”, das sie zusammen mit Tania Witte unter dem Pseudonym Ella Blix geschrieben hat — richtig schön fesselnd! Du magst Geschichten, die sich langsam entfalten und weit zurück in die Vergangenheit reichen? Dann wäre “Zertrennlich” von Saskia Sarginson etwas für dich. Sehr kunstvoll schreibt auch Antonia Michaelis, die ein Geheimnis um drei Schwestern in “Solange die Nachtigall singt” erst am Ende lüftet. Eine Neuerscheinung, in der ebenfalls zu Beginn bereits ein Mord gestanden wird, ist “Bloody Weekend” von M.A. Bennett. Bücher, die mich vom Ausgang der Geschichte her, sehr stark an “Schattengesicht” erinnert haben, sind ««««««ACHTUNG SPOILER:»»»»»» zum Beispiel: “Böser Bruder, toter Bruder” von Narinder Dhami, “Tote Mädchen schreiben keine Briefe” von Gail Giles, “1000 Mal gedenk ich dein” von Heike Eva Schmidt, “Böse, böse” von Elizabeth Woods, “Feuerschwester” von Emiko Jean und “Als ich dich suchte” von Lauren Oliver. ««««««ENDE SPOILER»»»»»»
Bibliografische Angaben:Verlag: Ulrike Helmer ISBN: 978-3-89741-413-6 Erscheinungsdatum: 1.Februrar 2018 Einbandart: Broschur Preis: 12,00€ Seitenzahl: 190 Übersetzer: - Originaltitel: - Originalverlag: Querverlag Originalcover:
Lizenzausgabe im Bloomsbury Verlag:
Kasimiras Bewertung:
(4,5 von 5 möglichen Punkten)
Vielen, vielen Dank für diese wunderschöne Rezension. Ich bin total stolz, so schön von dir besprochen zu sein. :-)
Gerne… tolle Bücher kriegen halt auch tolle Rezensionen;-) weiter so! Bin gespannt aufs nächste Buch
Lg Kasimira
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