“Hyde” von der deutschen Autorin Antje Wagner ist ein Roman, der eine Wahrheit verbirgt, die sich erst nach und nach entblättert. Über ein alternatives Leben, das plötzlich zu Ende ist und ein Mädchen, das Rache nimmt. Geheimnisvoll. Faszinierend. Und sprachlich — wie gewohnt von der Autorin — gekonnt erzählt. Ein Buch, das rasch gefangen nimmt und nicht loslässt. Beste Unterhaltung für Jugendliche ab 15 Jahren und Erwachsene, die eine Freude an anspruchsvoller, facettenreicher Literatur haben! Jetzt neu als Taschenbuch erschienen.
Hyde. Das Haus hinter den Hecken. Mitten in der Natur, fernab von der menschlichen Zivilisation. Hier ist Katrina mit ihrer Zwillingsschwester Zoe und ihrem Vater aufgewachsen. Hier verbergen sich das Glück und zugleich die Sorgen ihrer Kindheit. Denn bei Dunkelheit durften sie das Haus nicht verlassen. “Von Anfang Juni bis Ende Februar hatten wir Hyde nicht mehr verlassen dürfen, sobald es dämmerte. […] Das Dunkel war verboten. Es war zu gefährlich. Lebensgefährlich.” (Zitat S.37) Jetzt ist Katrina mittlerweile 18 Jahre alt, Tischlerin geworden und befindet sich auf der Walz. Sie reist von Ort zu Ort und verdient sich dort Geld, wo ihre Hilfe benötigt wird. Immer ist sie darauf angewiesen, von jemandem mit dem Auto ein Stück mitgenommen zu werden, so wie zum Beispiel von der Radiomoderatorin und Wahrsagerin Josefine, die ihr zufällig auch einen nächsten Job vermittelt. Aber obwohl sie die Frau, die ihr sogar ihre Visitenkarte gibt, auf Anhieb sympathische findet, kann Katrina nicht länger als nötig bei ihr bleiben: “Ich strich den Gedanken sofort wieder durch. Bindungen einzugehen, war ausgeschlossen. Sie hielten nur auf. Ich war nicht unterwegs um Freunde zu finden, sondern auf einem Feldzug. Darauf sollte ich mich konzentrieren.” (Zitat S.17) Nach einem Ausbeuterjob in einer zwielichtigen Absteige landet Katrina schließlich im Haus Waldkauz, einem weit abgelegenen Anwesen, das bereits völlig verwahrlost und heruntergekommen ist und um das sich düstere Geschichten ranken. Leute aus dem nächsten Dorf erzählen, dass der Teufel darin wohnt; fordern, dass es abgebrannt wird. Es wurde der Gemeinde unter bestimmten Auflagen vererbt. Darunter eine, die besagt, dass ein bestimmter Raum in dem Haus niemals geöffnet werden dürfe. Schon einige Verwalter hat das Haus mit der düsteren Vergangenheit hinter sich gelassen. Trotzdem nimmt Katrina den Job, das Haus wieder in Schuss zu setzen, an. Denn das junge Mädchen hat einen Plan. Einen Racheplan: “Sie werden für alles bezahlen, Zoe. Dachte ich. Du kannst dich auf mich verlassen. Zahn um Zahn. Sie wissen es nicht, aber ich bin schon unterwegs.” (Zitat S.42) Und nichts und niemand wird Katrina aufhalten…
Bereits das Cover zu “Hyde” wirkt genauso geheimnisvoll wie der Titel des Buches. Was verbirgt sich hinter den Blättern? Ist die Ähnlichkeit zu dem englischen Wort “hide” (=verbergen) Absicht oder Zufall? Mit einem poetisch-philosophischen Start, ein paar wenigen Sätzen, die dem ersten Kapitel vorangestellt sind, macht die Autorin bereits neugierig: “Was ist die Ursache für Liebe? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass die Liebe nicht verschwindet, wenn der Mensch, dem sie gilt, stirbt. Sie ist immer noch da. Wie das Licht, wenn eine Kerze erlischt. Sie ist in meinem Inneren, streift suchend umher, heimatlos, mit wunden Füßen, sehnsüchtigen Händen.” (Zitat S.5) Und die Neugierde ist ein Grundelement, das den Leser wie einen roten Faden durchgängig durch den Roman zieht. Denn in der Geschichte, die komplett aus Katrinas Sicht in der Ich-Perspektive geschrieben ist, befindet sich der Leser pausenlos auf Spurensuche. Schon Katrina als Charakter gibt große Rätsel auf. Sie hat ein schwaches, linkes Bein, das sie manchmal nachzieht. Ihre Aussprache ist undeutlich, so dass andere sie nicht immer verstehen und sie trägt unentwegt ein Tuch vor dem Mund. Die Ursachen scheinen weit zurück zu liegen. Das erkennt auch sofort die Wahrsagerin Josefine, die ungefragt ein Urteil abgibt: “Da ist etwas… etwas Grauenhaftes.” Ihre Stimme wurde leiser. “Es liegt in ihrer Vergangenheit. […] Ein großes Unrecht…” Sie wusste etwas! “Aus der Vergangenheit führen zwei Türen”, fuhr sie fort. “Eine öffnet sich ins Licht und die andere in die Finsternis. Sie müssen sich entscheiden.” Sie sprach jetzt sehr leise und das erste Mal ohne Ausrufezeichen. “Es ist vielleicht die wichtigste Entscheidung ihres Lebens.” (Zitat S.18ff) Auf der Suche nach der Wahrheit wird rasch klar, dass Katrina mit ihrer Schwester und ihrem Vater ein ganz anderes, alternatives Leben geführt hat. Bruchstücke und Erinnerungen an früher durchtränken die Geschichte immer wieder und lassen den Leser eintauchen in ein faszinierendes Stück Vergangenheit: “Wir drei schaffen es”, hatte er gesagt. “Du, Zoe und ich. Wir leben ein besonderes Leben. […] Probleme haben nur die Leute draußen. Wir nicht. Für uns gibt es nur Herausforderungen.” (Zitat S.40) Warum ist dieses Leben auf einmal zu Ende gegangen? Wie ist es dazu überhaupt gekommen? Und wo sind Zoe und ihr Vater jetzt? Fragen über Fragen bilden sich beim Lesen wie unsichtbare Sprechblasen über dem Kopf. Man wird förmlich vereinnahmt von der Geschichte und in einen Bann gezogen, aus dem es schwer ist, sich zu befreien. Gleichzeitig fühlt man sich zeitweise völlig ahnungslos, in welche Richtung vor allem das Geschehen der Jetztzeit gehen könnte. Während die Handlung mysteriös und undurchschaubar erscheint, wirken die gezeichneten Charaktere jedoch greifbar und gut skizziert. Wie zum Beispiel die Wahrsagerin, die Katrina gleich zu Beginn von “Hyde” kennenlernt: “Josefine bevorzugte Gesten, die man auch aus der Ferne verstehen würde. Sie war der Typ für die Bühne. Hinter jedem Satz hörte man Ausrufezeichen. Alles war für immer, nie, vollkommen oder zutiefst. Kein Mittelmaß. Nur Extreme. Das fand ich gut. Das hatte ich noch nie bei jemandem erlebt. Ja, ich kannte sie. Irgendwie. Nicht aus der Wirklichkeit. Aus einer Sehnsucht.” (Zitat S.16) Was mir an dem Roman ebenfalls besonders gut gefallen hat, ist die atmosphärische Sprache, die Antje Wagner verwendet. Die Stimmungen, die sie in Worte fasst und die Bilder, die sie im Kopf unweigerlich entstehen lässt: “Vollmond. Gerade noch war alles schwarz wie Teer gewesen, jetzt schwappte knochenweißes Licht durch ein Wolkenloch über die verschneiten Nadelbäume, spiegelte sich in der Schneedecke über dem Hang, legte alles bloß. […] Wuchernde Ranken lagen über der Vorderfront wie ein Hutschleier über einem verweinten Gesicht. […] Der Mond beleuchtete den tief verschneiten Hang und der Hang leuchtete gespenstisch zurück.” (Zitat S.72) Das Ende ist geradezu nervenzehrend und vielschichtig und in einem besonders schönen Geflecht von schnell wechselnden Abschnitten aus Vergangenheit und Gegenwart zusammengesetzt, das die Dramatik der Geschichte gelungen unterstreicht und einen kleinen Hauch Mystik offenbart. (Wobei mir die allerletzte Handlung mir fast ein bisschen too much war;-))
Fazit: Ein grandioses Buch, das sich definitiv zu lesen lohnt!
Von der Stimmung her, dem Geheimnisvollen und der Naturthematik habe ich auch an folgendes Buch sofort denken müssen: “Solange die Nachtigall singt” von Antonia Michaelis, eine sehr gute (ebenfalls literarische) Alternative. Oder noch etwas anspruchsvoller und brillant geschrieben: “Das Mädchen mit den gläsernen Füßen” von Ali Shaw. Dieses Zurückgezogen in der Natur leben, das findest du ebenso in folgenden Büchern: “Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern” von Johanna Rosen (alias Jana Frey), “Zertrennlich” von Saskia Sarginson und “Wenn ihr uns findet” von Emily Murdoch. Dir gefällt Antje Wagners Erzählstil? Dann greif doch noch zu ihren anderen Jugendbüchern, hier chronologisch nach Erscheinungsdatum “Unland” (2009), “Schattengesicht” (2012) und “Vakuum” (2014). Für Erwachsene sind unter anderem “Mottenlicht (Kurzgeschichten)” (2003) und “Hinter dem Schlaf” (2005). Ganz neu ist noch “Der Schein”, das sie zusammen mit Tania Witte unter dem Pseudonym Ella Blix geschrieben hat — richtig schön fesselnd!
Bibliografische Angaben: Verlag: Beltz & Gelberg ISBN: 978-3-407-75535-3 Erscheinungsdatum: 10.März 2020 Einbandart: Taschenbuch Preis: 9,95€ Seitenzahl: 408 Übersetzer: - Originaltitel: - Originalverlag: - Originalcover: -
Kasimiras Bewertung:
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