Der britische Autor Andrew Norriss hat mit “Jessicas Geist” eine überraschend kluge Geschichte über das Thema Anderssein geschrieben. Ein Roman über Freundschaft, Ausgrenzung/Mobbing und Suizid. Mit einem Geist in der Hauptrolle. Ein großartiges Buch! Unterhaltsam, sensibel und einfach herzerwärmend erzählt. Eine Geschichte, die man gelesen haben sollte. Für Jugendliche ab 12 Jahren und interessierte Erwachsene.
Eigentlich will sich Francis in seiner Mittagspause nur ein ruhiges Plätzchen auf dem Pausenhof suchen. Selbst die eisigen Temperaturen draußen schrecken ihn nicht ab. Er will alleine sein. Nachdenken. Bis sich auf einmal ein unbekanntes Mädchen zu ihm setzt. Eines, das nur ein kurzes Kleid trägt, aber überhaupt nicht zu frieren scheint. Höflich bietet Francis ihr einen Schluck aus seinem Thermosbecher an. “Redest du… redest du mit mir?” fragte sie. “Ja, sorry.” Francis zog den Thermosbecher wieder zurück. “Wird nicht noch mal vorkommen.” “Und du verstehst, was ich sage?” “Ja”, sagte Francis. “Noch mal sorry.” Das Mädchen runzelte die Stirn. “Aber niemand kann mich sehen! Oder hören!” “Nein?” “Außer…” Das Mädchen sah ihn angestrengt an. “Du bist nicht zufällig auch tot, oder?” “Äh, nein, ich glaube nicht.” (Zitat S.9) Was Francis daraufhin erfährt, ist geradezu unglaublich. Denn das Mädchen, das sich ihm mit Jessica vorstellt, ist ein Geist und bereits seit einem Jahr verstorben. An ihren Tod kann sie sich nicht erinnern, nur dass sie an dem Fenster stehend in einem Krankenhaus zu sich gekommen ist. Neben ihr ihr lebloser Körper. Irgendetwas scheint Jessica noch hier zu halten. Aber was? Francis zumindest ist überglücklich. Er, der Außenseiter, hat nun endlich eine beste Freundin gefunden. Dass Francis anders ist, das hat Jessica schon beim Betreten seines Zimmers bemerkt: “Das Erste, was Jessica auffiel, waren die Zeichnungen an der Wand. Es waren Modeskizzen in Bleistift oder Kohle für eine Reihe von Mänteln, Kleider und Roben. Auf einem Arbeitstisch stand einen Nähmaschine, und dahinter stapelten sich Stoffrollen in allen Farben und Mustern.” (Zitat S.20) Mit vier Jahren hat Francis nichts lieber getan, als die Modezeitschriften seiner Mutter anzusehen, mit acht Jahren bekam er seine eigene Nähmaschine. Seitdem näht er seinen Puppen Kleider, nach Modestilen aus allen Jahrhunderten. Weil man in der Schule jedoch eine dieser Puppen in seiner Tasche gefunden hat, wird er von einem Mitschüler gemobbt. Jessica ist Francis Lichtblick. Mit ihr macht auf einmal auch die Schule wieder Spaß. Und so lässt er sich
auf den Wunsch seiner Mutter ein, sich um Andi — ein neues Mädchen an seiner Schule — zu kümmern. Andi ist eher etwas burschikoser und bereits wegen Prügelei von mehreren Schulen geflogen. Und seltsamerweise kann auch sie Jessica sehen! Durch die Freundschaft mit Francis und dem Geist blüht Andi regelrecht auf. Ebenso der übergewichtige, depressive Roland, um den sich Francis ebenfalls kümmern soll (nach dem Erfolg mit Andi), nimmt Jessica wahr. Bald stoßen die vier Jugendlichen auf eine unerwartete Gemeinsamkeit…
“Jessicas Geist” wartet mit einem interessanten Cover auf, das sich deutlich von der Masse anderer Bücher abhebt. Zu sehen sind mehrere Schnittmuster, die auf Francis Hobby anspielen und auch im Innenteil zu den Kapitelanfängen fortgesetzt werden. In einer einfachen Sprache berichtet ein allwissender Erzähler aus dem Leben von Francis, seiner Mutter, Jessica, Andi, Roland und deren jeweiligen Eltern. Und dies auf recht lockere Art und Weise, mit vielen Dialogen und keinerlei Längen oder langweiligen Stellen (einzig zu Beginn wird für meinen Geschmack etwas zu oft erwähnt, dass niemand Jessica bisher hören oder sehen konnte, so ungefähr sieben Mal;-)) Insgesamt gesehen habe ich mich durchgehend richtig gut unterhalten gefühlt! Man leidet mit den Protagonisten mit, fühlt ihren Kummer, aber erlebt auch vor allem ihre Freude, ihr gemeinsames Miteinander, das sie stark macht und ihnen neues Selbstbewusstsein verleiht. Manche Stellen machen echt gute Laune, wenn man sieht, was ihre Freundschaft alles zu verändern mag. Andere berühren und machen nachdenklich: “Alle scheinen morgens immer mit einem Lächeln auf den Lippen aufzustehen… und du denkst, wieso kann ich das nicht? Wieso kann ich nicht ganz normal sein? Warum muss ich so anders sein als die anderen?” “Und das ist es am Ende, was dich fertigmacht, stimmt’s?” Jetzt war es Francis, der sprach. “Dieses Anderssein. Du möchtest so gern so sein wie alle anderen, aber…” Er sah Roland mitfühlend an. “…du weißt, dass das nie passieren wird.” (Zitat S.129) Der Roman behandelt das Thema Anderssein auf sehr behutsame Weise. Er fasst in Worte, was vielleicht viele Jugendliche empfinden auf ihrem Weg erwachsen zu werden. Aber “Jessicas Geist” liefert auch wichtige Erkenntnisse. Dass man traurige Episoden seines Lebens lieber mit jemandem teilen sollte, als sie
alleine mit sich selbst auszumachen: “Du hast nie darüber gesprochen?” “Nein.” Mit niemandem?” “Nein.” “Ich auch nicht”, meinte Jessica, “Und wenn ich so zurückdenke, dann war das mit Sicherheit ein Fehler.” (Zitat S.136) Und dass man an seiner Einstellung zur (vielleicht abwertenden) Meinung anderer arbeiten sollte: “Die größte Veränderung, dachte Francis, lag nicht an seinen Freunden oder an der Schule, sondern an ihm selbst. […] Es lag daran, dass es nicht mehr wichtig für ihn war, was andere Leute dachten. Wenn sie es so merkwürdig fanden, was er da tat [nähen], dann sollten sie doch. Vielleicht war es sogar merkwürdig. Und anders. Aber so war er eben und die Leute um ihn herum würden wohl damit leben müssen.” (Zitat S.219) Etwas schade fand ich, dass man nicht mehr ganz so viel zu den Umständen von Jessicas Tod erfährt, da hätte ich mir am Ende noch ein bisschen mehr gewünscht. Der Roman eignet sich auch hervorragend als Klassenlektüre. Es erhebt keinen pädagogischen Zeigefinger, sondern vermittelt auf unaufdringliche Weise, wie man sich bei Mobbing und negativen Gedankenmustern verhalten kann.
Fazit: So eine Geschichte zum Thema Mobbing/Suizid hat man bisher noch nicht gelesen! Und das sollte man definitiv dringend nachholen;-)
Wenn dich die Themen Geister und Freundschaft faszinieren, dann könnte ich mir sehr gut “Das unsichtbare Mädchen” von Charis Cotter vorstellen. Mobbing spielt auch bei der Geistergeschichte “Der 13.Gast” von Rhinnanon Lassiter eine kleine Rolle. Durch einen Geist etwas vom Leben lernen, diese Erfahrung macht die Hauptfigur in “Mary, Tansey und die Reise in die Nacht” von Roddy Doyle. Ein bisschen hat mich Francis mit seinem Faible fürs Nähen auch an “Ben Fletchers total geniale Maschen” von T.S. Easton erinnert, in dem ein Junge sein Talent fürs Stricken entdeckt und nach allerlei Turbulenzen schließlich lernt zu sich selbst zu stehen. Letzteres erfahren auch die Protagonisten in “Mut ist der Anfang vom Glück” von Heike Karen Gürtler und “George” von Alex Gino. Sehr gelungen fand ich ebenso “Wohin meine Flossen mich tragen” von der australischen Autorin Kate Gordon. Für Jungs ist auch “Die Ballade von der gebrochenen Nase” von Arne Svingen toll!
Bibliografische Angaben:Verlag: Rowohlt ISBN: 978-3-499-21744-9 Erscheinungsdatum: 26.August 2016 Einbandart: Hardcover Preis: 14,99€ Seitenzahl: 224 Übersetzer: Christiane Steen Originaltitel: "Jessica's ghost" Originalverlag: Faber and Faber Britisches Originalcover:
![]()
Kasimiras Bewertung:
(5 von 5 möglichen Punkten)
Dieser Titel hat es in folgende Kategorie geschafft: **Kasimiras Lieblingsbücher**
------------------------------------------------------ Britisches Cover: Homepage von Andrew Norriss