Der deutsche Autor Andreas Götz hat mit “Wir sind die Wahrheit” einen neuen gesellschaftspolitischen Roman geschrieben, der sich mit Rechtsextremismus, Gewalt und Radikalisierung auseinandersetzt. Mittendrin ein Mädchen, deren Bruder nach einer Schlägerei im Koma liegt und einer rechten Gruppierung verfallen zu sein scheint. Auf der Suche nach der Wahrheit gerät sie selbst in den Bann des Anführers. Ein wichtiges und mitreißendes Buch. Für Jugendliche ab 14 Jahren und Erwachsene.
Das Abitur hat Leah hinter sich gebracht. Möchte nun nach Berlin ziehen. Doch jetzt ist ihr Zwillingsbruder Noah brutal zusammengeschlagen worden und liegt im Koma. Immer wieder hat er sich für Flüchtlinge engagiert. Nun scheint er von Menschen mit Migrationshintergrund, mit denen er zuvor auch noch gesprochen hat, so schwer verletzt worden zu sein, dass man nicht weiß, wann und ob er wieder aufwachen wird. “Er spürt keinen Schmerz, versichern uns die Ärzte und Pfleger wieder und wieder, und so friedlich, wie er daliegt, glaube ich ihnen das auch. Dafür spüre ich den Schmerz.” (Zitat aus “Wir sind die Wahrheit” S.9) Für Leah sind Besuche im Krankenhaus beinahe unmöglich. Sie kann ihren Bruder in diesem Zustand einfach nicht sehen. Hat wahnsinnige Angst um ihn. Jetzt ist auch noch ein Video von der Tatnacht bei der Polizei aufgetaucht, das mehr über den Ablauf verrät: “Es wirkt alles cool, Noah lacht und die Männer lachen mit. Bis die Stimmung wie aus dem Nichts umschlägt. Auf einmal sind die Männer total aufgebracht, sie brüllen rum und stoßen Noah. Es gibt die ersten Schläge. Fausthiebe. Noah wehrt sich, aber nicht sehr entschlossen. Die Schläge werden heftiger, er geht zu Boden und wird getreten.” (Zitat S.17) Bald bekommt Leah selbst von einem Unbekannten Videos zugeschickt, die sie nur einmal öffnen kann, ehe sie wieder spurlos verschwinden. Sie zeigen das Videotagebuch ihres Bruders und Aussagen von ihm, die Leah mehr und mehr verwirren. Immer öfter hat sie das Gefühl ihren Bruder nicht mehr zu kennen. Auch eine ehemalige Klassenkameradin, die Journalistin werden will, warnt sie, Noah sei in die rechte Szene abgerutscht. Selbst
der Sohn der besten Freundin ihrer Mutter scheint mehr zu wissen als Leah: “Ich weiß bloß, dass er sich mit irgendwelchen Leuten getroffen hat.” “Was denn für Leute?” “Hat er nicht gesagt. Ich hab auch nicht groß gefragt. War alles supergeheim. Dein Anhänger da, den hat er von denen.” Er deutet auf Noahs goldene Adlermünze, die ich wie einen Talisman für ihn um den Hals trage.” (Zitat S.62ff) Schließlich trifft Leah auf den charismatischen Alexander, der einer rechten Bewegung angehört und auch Noah gekannt hat. Und das verändert alles…
Das Cover von “Wir sind die Wahrheit” macht schon von der äußeren Gestaltung und vor allem mit dem Schriftbild und Titel klar, um was es in dem Buch gehen wird. Es beginnt mit einem der Ich-Erzählerin Leah an ihren Bruder: “Bitte stirb nicht! DU DARFST NICHT STERBEN! Ich verbiete es! Weil… ein Leben ohne dich kann ich mir nicht vorstellen! Und ich will es auch nicht! Du und ich, wir waren immer zu zweit, von Geburt an.” (Zitat S.5) Dann beginnt der Hauptteil des Buches, der in vier Teile gegliedert ist, die folgende Titel tragen: “Die Videos”, “Die Gruppe”, “Gefühle” und “Die Wahrheit”. Der Erzählstil ist sehr flüssig, teils mit kurzen, prägnanten Sätzen. Die Worte von Noahs Videotagebuch werden mit einem “Play”-Zeichen eingeleitet und sind in einem anderen Schriftbild gestaltet. Ebenso wie Leah taucht man als Leser erst langsam in die Welt des Rechtsradikalismus ein. Begleitet sie dabei mehr darüber herauszufinden. Vor allem der Prozess sich einzugestehen, was aus ihrem Bruder geworden ist, liest sich sehr authentisch und intensiv: “Volksverräter wurden schon immer und überall aufgeknüpft! Es wäre an der Zeit, dass dieser schöne Brauch wiederbelebt wird! Wir sind die Opfer, sie die Täter! Wann kapiert ihr linken Idioten das endlich! Mein Widerstandsgeist ist erwacht. So etwas Unmenschliches soll mein Bruder geschrieben haben? Nie im Leben!” (Zitat S.68) Leah wehrt sich dagegen. Kann
nicht glauben, was ihr Bruder da von sich gibt. Was er im Internet angeblich unter Pseudonym geschrieben haben soll, was er aber auch in seinem Videotagebuch ihr gegenüber äußert. Die Geschichte vereinnahm beim Lesen immer mehr, lässt die unterschwellige Bedrohung immer spürbarer werden. Denn es stellt sich vor allem eine Frage: Wer schickt ihr diese Videos? Was bezweckt die Person damit? Und welche Wahrheit wird Leah am Ende zutage befördern? Was mir nicht so gut an “Wir sind die Wahrheit” gefiel, ist die gelegentliche Erwähnung des Rauchens, die in einem Jugendbuch vor allem in dieser Formulierung nicht wirklich sein muss: “Steffi zündet sich ihre selbst gedrehte Zigarette an. Rauchen beruhigt, sagt sie.” (Zitat S.44) Was hingegen sehr gut getroffen wurde, sind die zwiespältigen Gefühle, die Leah Alexander gegenüber entwickelt (auch wenn etwas schnell bereits von “Liebe” gesprochen wird), diese Sehnsucht einerseits, aber auch die Vernunft, für was er steht, andererseits. Das Ende war — ich kann gar nicht genauso sagen warum — für mich irgendwie nicht ganz so zufriedenstellend. Ein bisschen viel Pathos, ein wenig fehlende Authentizität hinsichtlich der Entwicklung des Bruders, der Überraschungsmoment, irgendwie war das nicht ganz rund. Aber am besten selbst lesen und eine eigene Meinung bilden!
Fazit: Ein fesselndes, thematisch sehr wichtiges Buch mit ganz kleinen Schwächen.
Dir gefällt Andreas Götz Erzählstil? Dann lies doch noch seine anderen Bücher (alles Thriller): “Stirb leise, mein Engel!”, “Hörst du den Tod?” und “Denn morgen sind wir tot”. Außerdem hat er noch die Soap-artige Reihe “Bad Boys & Little Bitches” und die Fortsetzung “Bad Boys & Little Bitches: Kleine Sünden” geschrieben. Hinsichtlich des zwischendrin eingeblendeten Videotagebuchs, das den Erzähltext immer wieder unterbricht, wurde ich auch ein wenig an “Tote Mädchen lügen nicht” von Bestsellerautor Jay Asher erinnert, wenn auch mit anderer Hintergrundthematik. Falls es gerade das Thema Rechtsextremismus ist, das dich interessiert, dann hast im Jugendbuch jede Menge Titel, die du lesen kannst: “Angst sollt ihr haben” von Manfred Theisen (2017), “Anschlag von rechts” von Reiner Engelmann (2017), “Neonazi” von Timo F. (2017), “Der Schuss” von Christian Linker (2017),“Sommer unter schwarzen Flügeln” (Band 1, 2015) + “Winter so weit” (Band 2, 2017) von Peer Martin, “Schwarzer, Wolf, Skin” von Marie Hagemann (2016), “Der rechte Weg” von Brigitte Blobel (2014), “Blutsbrüder” von Michael Wildenhain (2011), “Ich hab dich gesehen” von C.Z. Nightingale (2011), “Der Kick: Ein Lehrstück über Gewalt” von Andres Veiel, “Schwarz, rot, tot” von Heidi Hassenmüller (2004), “Der Unsichtbare” von Mats Wahl (2001), “Ganz schön blauäugig” von Mats Berggren (2001). Eine gute Lesealternative bezüglich total verschiedener Welten und einer Liebesgeschichte findest du auch richtig gut geschrieben in der Neuerscheinung “Es war die Nachtigall” von Katrin Bongard. Wie schnell Radikalisierung abläuft (zum Dschihad) das erlebst du zudem in “Dschihad online” von Bestsellerautor Morton Rhue. Sehr ergreifend und höchst literarisch ist außerdem “Die Attentäter” von Antonia Michaelis.
Bibliografische Angaben:Verlag: Dressler ISBN: 978-3-7891-50148-2 Erscheinungsdatum: 23.März 2020 Einbandart: Hardcover Preis: 17,00€ Seitenzahl: 288 Übersetzer: - Originaltitel: - Originalverlag: - Originalcover: -
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