Die britische Autorin Alice Oseman war 17 Jahre alt, als sie “Solitaire” schrieb, und noch Schülerin. Durch ihre “Heartstopper”-Reihe wurde sie zur Bestsellerautorin! Ihren Debütroman hat der Loewe Verlag nun noch einmal neu aufgelegt: Er erzählt die Geschichte eines äußerst pessimistischen Mädchens (welches im Übrigen die Schwester von Charlie aus “Heartstoppers” ist!). Ein unabhängig zu lesender Roman über das Anderssein, über Freundschaft und das Lebensgefühl einer Onlinegeneration. Voller Zynismus und Weltschmerz. Sehr authentisch und äußerst unterhaltsam! Für Jugendliche ab 13 Jahren, die mal keine 0–8‑15-Geschichte lesen wollen. Und für Erwachsene.
Die 16-jährige Victoria Spring, die nur Tori genannt werden will, ist wahrlich keine Optimistin. Eher im Gegenteil. “Vielleicht sollte ich gleich dazusagen, dass ich mir ständig über alle möglichen Sachen den Kopf zerbreche und mir Dinge vorstelle, die mich traurig machen.” (Zitat aus “Solitaire” S.12). Sie hasst Menschen und die Oberflächlichkeit von Teenagergesprächen ödet sie an. Überhaupt gibt es sehr vieles, das sie nicht mag. Ihre einzige Freundin Rebecca ist da eine Ausnahme. Becky, die immer versucht, sie in die Gruppe der anderen zu integrieren. “Ich bestelle eine zuckerfreie Zitronenlimonade und lasse dann den Blick den Tisch entlangwandern. Die anderen unterhalten sich, es wird gelacht, und das macht mich irgendwie traurig, so als würde ich sie von draußen durch eine schmutzige Fensterscheibe beobachten.” (Zitat aus “Solitaire” S.49) Doch Tori fühlt sich als Außenseiterin und will eine bleiben. Das Leben langweilt sie. Zutiefst. “Ich bin wieder in der Schule. Ein neues Jahr hat angefangen. Nichts wird passieren. Ich stehe da. Becky und ich schauen uns an. “Tori”, sagt Becky, “du siehst aus, als würdest du dich am liebsten umbringen.” (Zitat S.11) Was Tori gerne tut, ist schlafen und bloggen. Sie hat einen eigenen Blog, auf dem sie ihre pessimistischen Gedanken der Außenwelt anonym mitteilt. Denn nur in der digitalen Welt ist es ihr möglich ihren Schmerz zu teilen. Mit echten Menschen, abgesehen von Becky, könnte sie über so etwas niemals sprechen. “Niemand ist ehrlich, niemand ist echt. Man darf niemandem und nichts trauen. Die Menschheit leidet an einer tödlichen Krankheit, die Gefühle heißt. Und wir werden alle daran sterben.” (Zitat S.323) Bis auf einmal Michael Holden in ihrem Leben auftaucht. Er ist anders, schert sich nicht um Konventionen und ihm scheint etwas an Tori zu liegen. Warum? “Und wer bist du, Victoria Spring?” Mir fällt
nichts ein, was ich darauf antworten könnte, weil genau das meine Antwort wäre: nichts. Ich bin ein Vakuum. Ich bin leer. Ich bin nichts.” (Zitat S.23) Doch Michael, der eben so wie sie, auf ein paar Post-its gestoßen, die sie zu dem geheimnisvollen und leeren Blog namens “Solitaire” führen, fängt an hinter Victorias Fassade zu schauen. Er ist aufmerksam. Er sieht sie: “Du bist verschlossen und pessimistisch. […] Du tust gern so, als wäre dir alles egal, und wenn du so weitermachst, wirst du in den Abgrund stürzen, den du dir selbst erdacht hast.” (Zitat S.57). Michael bringt Tori dazu über sich nachzudenken. Und auch wenn ihr “Solitaire” eigentlich egal ist, versucht sie diesem “Geheimclub” — der an ihrer Schule den Lehrern die verrücktesten Streiche spielt und diese auf dem Blog postet - auf die Spur zu kommen…
“Solitaire” ist eine beeindruckende Geschichte. Schon der erste Satz macht klar, dass diese kein typisches Jugendbuch ist: “Ich komme in den Oberstufenraum und weiß genau, dass die meisten Leute hier so gut wie tot sind. Ich auch.” (Zitat S.11). Der Roman sprüht nur so vor Sarkasmus und Depressivität. Aber genau das macht aus Tori, die in der Ich-Perspektive erzählt, eine bedeutsame, äußerst faszinierende Persönlichkeit. Eben weil sie nicht ist wie alle anderen und weil sie ihre Traurigkeit auslebt. Während man zu Beginn nur all ihre Schattenseiten zu Gesicht bekommt, gelingt es dem Leser allmählich einen Blick hinter ihre starre Maske zu bekommen. “Ich will nicht, dass man versucht zu verstehen, warum ich so bin, wie ich bin, weil ich die Erste sein möchte, die es versteht. Und ich verstehe es noch nicht. Ich will nicht, dass man sich einmischt. Ich will nicht, dass man in meinem Kopf herumstochert und meine kaputten Teile ausgräbt. Wenn Freunde so was tun, dann will ich keine. Er lächelt. Ein echtes
Lächeln. Dann lacht er. “Du hast wirklich ein Riesenproblem damit zu akzeptieren, dass du anderen nicht egal bist!” Ich sage nichts dazu. Er hat recht.” (Zitat S.248) Es ist absolut bewegend zu lesen, wie sehr Tori schwankt zwischen der Annahme von Freundschaft und dem Zurückstoßen von anderen Menschen. Immer wieder verletzt sie andere durch Worte, weiß es und kann trotzdem nicht anders reagieren. All das mit zu verfolgen, ist unheimlich ergreifend und liefert eine wirklich glaubhafte Charakterstudie eines Mädchens, das erst lernen muss sich auf andere Menschen tatsächlich einzulassen. Aber auch Becky, ihre beste Freundin, erkennt durch Tori im Gespräch mit einer anderen Klassenkameradin, dass ebenso Traurigkeit zum Leben dazugehört: “Vielleicht will ich manchmal einfach nur rauslassen, was ich wirklich fühle, statt dieses glückliche, lächelnde Gesicht aufsetzen zu müssen, das ich mir jeden verdammten Tag ins Gesicht klebe, nur damit ich bei so blöden Schlampen wie dir nicht langweilig rüberkomme.” (Zitat S. 337) Jedoch sind alle Gefühle wie Traurigkeit oder Wut gemeinsam immer besser auszuhalten, als alleine. Diese Erfahrung macht Tori am Ende des Buches. Sehr bewegend fand ich auch die Geschichte von ihrem jüngerem Bruder Charlie (bekannt aus “Heartstopper”), der eine Krankheitsphase hinter sich hat, zu der der Leser erst allmählich mehr Informationen erhält. Sein krankheitsbedingtes Verhalten verlangt Tori einiges ab und sorgt neben den Aktionen von “Solitaire” für ziemliche Dramatik.
Dir gefällt Alice Osemans Erzählstil? Dann lies noch ihre “Heartstopper”-Reihe (Graphic Novels), die fünf Bände umfasst: Band 1, Band 2, Band 3, Band 4 und Band 5 (der voraussichtlich 2023 erscheinen wird). Chronologisch gesehen spielt “Solitaire” ein Jahr nach den “Heartstopper”-Büchern (obwohl sie es zuerst geschrieben hat), kann aber auch unabhängig davon gelesen werden. Tori ist Charlies Schwester. Dann gibt es noch die Spin-Off-Novellen zu “Heartstopper”/“Solitaire”: “This Winter” und “Nick und Charlie” (keine Graphic Novels, sondern Romane). Eigenständige, unabhängige Romen von Alice Oseman sind noch “Nothing left for us” (hieß im Englischen “Radio Silence”), “Loveless” und “I was born for this” (erscheint Herbst 2023). Zu “Solitaire” gibt es mehrere Lesealternativen. Zum einen hinsichtlich der Gefühlslage der Protagonistin: So zieht sich die Hauptperson in “Schwarze Zeit” von Jana Frey ebenfalls zurück und möchte nirgendwo dazugehören, weil sie die anderen als oberflächlich empfindet und sich unverstanden fühlt. Jedoch geht dieser Roman im Gegensatz zu “Solitaire” noch weiter und führt zu einem Suizidversuch. Letzteres plant auch die 14-jährige Agnes in “Mein fantastisches Leben — von wegen!” von Sanne Søndergaard, die wohl beste Alternative zu dem hier rezensierten Roman, da Agnes ähnlich sarkastisch und pessimistisch denkt wie Tori. Die andere Thematik wäre die der unbekannten Gruppe/Einzelperson, die das gesellschaftliche Denken durch gewisse Aktionen völlig verändert beziehungsweise Chaos stiftet: In dem absolut bewegenden Roman “Nur eine Liste” von Siobhan Vivian stellt eine anonym verfasste Liste von den hübschesten und hässlichsten Mädchen das Leben jener völlig auf den Kopf. Das Thema Streiche und Geheimbund findet sich ebenso in “Die unrühmliche Geschichte der Frankie Landau-Banks” von E.Lockhart wieder, wenn hier auch die Mitglieder des Geheimbunds bereits zu Beginn bekannt sind und die Erzählart eher humorvoller geprägt ist. Das Thema Bloggen findest du in “Girl online” von Zoe Sugg alias Zoella (einer bekannten Videobloggerin), “Log out!” von Oliver Uschmann und “Gegen die Angst. Regines Blog” von Regine Stokke (das reelle Online-Tagebuch einer Leukämiekranken). Eine Freundschaftsgeschichte mit all ihren Facetten kannst du in “Papierfliegerworte” von Dawn O’Porter entdecken. Sich auf andere Menschen wieder einzulassen, das lernt auch die Hauptfigur in “Nur dieser eine Sommer” von Becky Citra. Auf der schmerzhaften Suche nach Authentizität befindet sich ebenso der Protagonist in “Aidan. Sünde. Lüge. Liebe. Mut” von Brendan Kiely, welches angesichts der schwankenden Emotionalität eine sehr gute Alternative zu “Solitaire” ist, wenn es auch ein anderes Grundthema hat (Missbrauch).
Bibliografische Angaben:Verlag: Loewe ISBN: 978-3-7432-1592-4 Erscheinungsdatum: 11.Januar 2023 Einbandart: Broschur Preis: 16,95€ Seitenzahl: 368 Übersetzer: Anja Galic Originaltitel: "Solitaire" Originalverlag: Harper Teen Deutsches Original-Hardcover:
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