T.A. Wegberg — Meine Mutter, sein Exmann und ich

T.A.Wegberg Meine Mutter, sein Exmann und ich9.März 2017

Mei­ne Mut­ter, sein Exmann und ich” von dem deut­schen Autor T.A.Wegberg ver­blüfft mit einem über­ra­schen­den Titel, der einen erst ein­mal stut­zig wer­den lässt. Wenn man weiß, was die Haupt­the­ma­tik des Buches ist, erklärt sich auch die­ser. Eine Geschich­te über Trans­se­xua­li­tät, Angst vor Aus­gren­zung und über Freund­schaft. Aus der Sicht eines Jun­gen erzählt, des­sen Mut­ter auf ein­mal zum Mann wird. Unglaub­lich unter­halt­sam und inter­es­sant erzählt! Ein sehr gelun­ge­ner Roman über ein Tabu­the­ma, der sich bes­tens als Schul­lek­tü­re oder für eine Buch­vor­stel­lung eig­net. Für Jugend­li­che ab 14 Jah­ren und Erwachsene.

Ber­lin. Der 10-jäh­ri­ge Josch­ka fällt aus allen Wol­ken, als sei­ne Mut­ter ihm und sei­ner Zwil­lings­schwes­ter Lis­ka eines Tages offen­bart, dass sie kei­ne Frau mehr sein und als Mann leben möch­te: “Aber du hast doch nie was gesagt! “Nein, natür­lich nicht! Was hät­te ich denn sagen sol­len? Dass ich mich nie als Frau gefühlt habe? Dass ich total unglück­lich mit mei­nem ver­damm­ten Kör­per bin? Ich konn­te das doch gar nicht erklä­ren. Ich woll­te es ja nicht mal wahr­ha­ben!” Mama wisch­te sich eine Trä­ne von der Wan­ge…” (Zitat S.6) Doch Josch­kas Mut­ter meint es ernst und lei­tet alle erfor­der­li­chen Schrit­te dafür in Bewe­gung. Sie beginnt eine The­ra­pie, um von der Kran­ken­kas­se ein Gut­ach­ten zu bekom­men, die ihr wei­te­re Behand­lun­gen ermög­li­chen. “Ich ver­kroch mich in mei­nem Zim­mer, spiel­te Mine­craft und fühl­te mich von der Welt ver­ra­ten. Wen hat­te ich denn jetzt noch? Papa war schon vor drei Jah­ren aus­ge­zo­gen, der war jetzt mit Petra ver­hei­ra­tet, und die krieg­te dem­nächst ein Baby. Mama woll­te nicht mehr unse­re Mama sein. Und zum ers­ten Mal hat­te auchT.A.Wegberg Meine Mutter, sein Exmann und ich Lis­ka mich im Stich gelas­sen, mei­ne Zwil­lings­schwes­ter, auf die ich mich in den zehn Jah­ren unse­res gemein­sa­men Lebens immer hat­te ver­las­sen kön­nen.” (Zitat S.7) Jetzt — fünf Jah­re spä­ter — steht die ent­schei­den­de, abschlie­ßen­de Ope­ra­ti­on an. Und Josch­kas Mut­ter heißt auf ein­mal Fre­de­rick. Längst wohnt der Jun­ge nicht mehr zu Hau­se, ist zu sei­nem Vater und des­sen neu­en Frau mit­samt Sohn gezo­gen, obwohl Letz­te­re ihn dort nicht wirk­lich will­kom­men heißt. Sei­nen Freun­den, allen vor­an Boris, sei­nem bes­ten Freund, hat Josch­ka nichts von der Wand­lung sei­ner Mut­ter erzählt. Boris hat Mama das letz­te Mal vor fünf Jah­ren gese­hen. Na ja, so ganz stimmt das nicht: Eigent­lich sind sie sich letz­ten Som­mer begeg­net, in der U‑Bahn, als ich mit ihr vom Zahn­arzt gekom­men bin und Boris plötz­lich zuge­stie­gen ist. […] Ich bin sofort auf­ge­stan­den und hab mich ein paar Meter von Mama ent­fernt hin­ge­stellt, und er hat nichts gemerkt. Wir muss­ten alle an der­sel­ben Sta­ti­on aus­stei­gen. Ich bin mit Boris gegan­gen, und mei­ne Mut­ter ist mit eini­gem Abstand hin­ter­her­ge­lau­fen.” (Zitat S.13) Josch­ka schämt sich für sei­ne Mut­ter, und was sol­len eigent­lich die ande­ren von sei­ner Fami­lie den­ken? Nie­mals darf jemand etwas davon erfah­ren. “Ich bin wütend auf Mama, weil sie nicht ein­fach Mama blei­ben konn­te. Ich bin wütend auf Lis­ka, die das nicht nur wider­spruch­los hin­nimmt, son­dern sogar noch unter­stützt. Ich bin wütend auf mich selbst, weil ich nicht eben­so gelas­sen wie sie damit umge­hen kann.” (Zitat S.111) Doch eines Tages hat er einen Unfall bei Boris zu Hau­se und sein Vater kann ihn nicht abho­len. All­mäh­lich merkt Josch­ka, dass es immer schwie­ri­ger wird, sein Geheim­nis vor den ande­ren zu ver­ber­gen. Vor allem als er der enga­gier­ten, taf­fen Emma näher kommt und in dem neu­en Mit­schü­ler Sebas­ti­an uner­war­tet einen Freund findet…

T.A.Wegberg Meine Mutter, sein Exmann und ichMei­ne Mut­ter, sein Exmann und ich” ist durch­ge­hend aus Josch­kas Sicht in der Ich-Per­spek­ti­ve geschrie­ben. Der Roman star­tet mit einem Pro­log, der fünf Jah­re zuvor ein­setzt und schil­dert, wie sei­ne Mut­ter erst­mals offen­bart, wie sie sich fühlt und was sie vor hat zu tun. Eine Ent­schei­dung, die Josch­kas kom­plet­tes Leben auf den Kopf stellt. Hier zeigt sich rasch, wie gut es dem Autoren gelingt, auch wider­sprüch­li­che Gefüh­le äußerst rea­lis­tisch dar­zu­stel­len. Wie Josch­ka sich bei­spiels­wei­se über­legt, was wäre, wenn sei­ne Mut­ter die Ope­ra­ti­on nicht über­le­ben wür­de: “Mit einer toten Mut­ter kann man sich nicht bla­mie­ren, so viel steht fest. Man wird bloß bedau­ert. Und nie wür­de jemand an mei­ner Schu­le oder einer von mei­nen Freun­den erfah­ren, dass mei­ne Mut­ter seit zwei Jah­ren Fre­de­rick heißt und sich mor­gens rasiert. Aber dann stel­le ich mir ein Leben ohne Mama vor. Sie ist die Ein­zi­ge, die ein Käse-Ei-Baguette wirk­lich so bele­gen kann, wie ich es mag, die jeder­zeit weiß, wo ich mein Han­dy hin­ge­legt habe, die sich die Namen mei­ner Leh­rer (und die von Lis­kas Leh­rern) mer­ken kann, die mei­nen Stun­den­plan aus­wen­dig kennt und die mit­ten in der Nacht zur Apo­the­ke fährt, um mir was gegen Zahn­schmer­zen zu kau­fen.” (Zitat S.16) Gera­de die­ser Zwie­spalt, die­ses Ver­mis­sen der Mut­ter einer­seits, aber auch die Besorg­nis und Ableh­nung ande­rer­seits, lesen sich sehr berüh­rend. Man kann sich her­vor­ra­gend in Josch­ka hin­ein­ver­set­zen und durch­lebt mit ihm sei­nen schu­li­schen All­tag, sei­ne Ver­ab­re­dun­gen mit sei­nen Freun­den und den Tanz aT.A.Wegberg Meine Mutter, sein Exmann und ichuf dem Draht­seil. Ein fal­scher Schritt und das Lügen­ge­rüst, das er sich müh­sam auf­ge­baut hat, wird in sich zusam­men­stür­zen. Zugleich leis­tet “Mei­ne Mut­ter, sein Exmann und ich” auch inhalt­li­che Auf­klä­rungs­ar­beit, räumt mit Vor­ur­tei­len auf und infor­miert: “Trans­se­xu­el­le wol­len nicht einem ande­ren Geschlecht ange­hö­ren”, doziert Lis­ka. “Sie tun das schon. Sie kom­men schon so auf die Welt. Nur eben lei­der im fal­schen Kör­per. Und das ist kei­ne Krank­heit. Genau­so wenig wie schwul zu sein. Es ist ein­fach ange­bo­ren, da kannst du nichts gegen machen. Wür­de ich aber, wenn ich könn­te. “Und war­um müs­sen die dann alle eine The­ra­pie machen?”, tri­um­phier­te ich. “Das ist ein­fach nur gesetz­lich vor­ge­schrie­ben, damit sie das Gut­ach­ten für die Kran­ken­kas­se krie­gen. Und damit irgend­wel­che labi­len Leu­te nicht den­ken, sie könn­ten auf die­se Wei­se ihre Pro­ble­me in den Griff krie­gen, obwohl sie eigent­lich gar nicht trans­se­xu­ell sind.” (Zitat S.11) Die größ­te Stär­ke des Autors hin­ge­gen ist sei­ne flüs­si­ge Erzähl­wei­se. Ganz ehr­lich: der Roman war durch­weg inter­es­sant und sehr unter­halt­sam geschrie­ben. Lan­ge­wei­le? Fehl­an­zei­ge. Selbst klei­ne All­tags­an­ek­do­ten, bei denen nicht viel pas­siert, schil­dert er abwechs­lungs­reich und fes­selnd. Das Ende hät­te sogar noch ein biss­chen aus­führ­li­cher sein können;-)

Wenn dir “Mei­ne Mut­ter, sein Exmann und ich” gut gefal­len hat, kannst du auch noch die ande­ren Rea­li­ty-Roma­ne von T.A. Weg­berg lesen (chro­no­lo­gisch nach Erschei­nungs­da­tum): “Memo­ry Error: Oder wie man Vater über den Jor­dan ging” (2009), “Herz­be­set­zer” (2010), “Klas­sen­ziel” (2012, toll!), “Ich kann­te kein Limit: Mei­ne Leben mit dem Alko­hol” (2014, zusam­men mit Sascha K.)Lesealternativen, “Du weißt es nur noch nicht” (2014), “Grenz­ver­let­zun­gen: Eine Geschich­te über Bor­der­line, Freund­schaft und Abhän­gig­keit” (2015). Zum The­ma Trans­se­xua­li­tät gibt es im Jugend­buch bis­her nur weni­ge Alter­na­ti­ven: “Zusam­men wer­den wir leuch­ten” von Lisa Wil­liam­son und “Geor­ge” von Alex Gino (hier wird aus der Sicht eines Jun­gen erzählt, der sich eigent­lich als Mäd­chen fühlt) und “Jen­ny mit O” von Karen-Sus­an Fes­sel (hier ist es genau anders her­um). Zum The­ma Inter­se­xua­li­tät gibt es eben­so einen Titel der­sel­ben Autorin: “Lie­be macht anders” und eine Neu­erschei­nung aus die­sem Jahr von Chris­ti­ne Fehér: “Weil ich so bin”. Als gute Alter­na­ti­ve könn­te ich mir eben­so “Die Bal­la­de von der gebro­che­nen Nase” von Arne Svin­g­en und “Ben Flet­chers total genia­le Maschen” von T.S. Eas­ton vor­stel­len, in denen ein Jun­ge ler­nen muss sich selbst zu ste­hen bezie­hungs­wei­se man­che Din­ge zu anzunehmen.

Bibliografische Angaben:
Schilder was wo wer wannVerlag: Rowohlt 
ISBN: 978-3-499-21759-3
Erscheinungsdatum: 10.März 2017
Einbandart: Broschur
Preis: 12,99€ 
Seitenzahl: 256 
Übersetzer: -
Originaltitel: - 
Originalverlag: -
Originalcover: -

Kasimiras Bewertung:

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(4,5 von 5 mög­li­chen Punkten)

4 Kommentare

  1. T. A. Wegberg

    Wow, was für eine tol­le Rezi! Freut mich total! Dan­ke schön!

    Darf ich die auf mei­nem Blog verlinken?

    T. A. Wegberg

    Antworten
    1. Kasimira (Beitrag Autor)

      Hal­lo Herr Wegberg,
      vie­len Dank für Ihren Bei­trag — den Autoren selbst unter den Kom­men­ta­to­ren zu haben, ist immer super:-) Klar, dür­fen Sie die Rezen­si­on ver­lin­ken. War aber auch ein tol­les Buch! Wie sind Sie eigent­lich auf die­ses beson­de­re The­ma gekommen?

      Vie­le Grüße
      Kasimira

      Antworten
      1. T. A. Wegberg

        Hal­lo Kasimira, 

        vie­len Dank! Ich habe gleich mal einen eige­nen Blog­bei­trag geschrie­ben und Ihren dar­in ver­linkt: http://tawegberg.blogspot.com/2017/03/die-ersten-rezensionen-zu-meine-mutter.html

        Das The­ma mei­nes neu­en Romans war tat­säch­lich ein Vor­schlag mei­nes Ver­lags, der mir aber bei der Umset­zung völ­lig freie Hand gelas­sen hat. Außen­sei­ter­the­men pas­sen sehr gut in mein “Beu­te­sche­ma”, des­halb muss­te ich nicht lan­ge über­le­gen. Etwas mehr Gedan­ken habe ich mir dann über die Struk­tur gemacht. Es gibt schon eini­ge Bücher über trans­se­xu­el­le Jugend­li­che, aber noch kei­ne über Jugend­li­che mit trans­se­xu­el­len Eltern — und so traf ich die Ent­schei­dung, die­se etwas ande­re Per­spek­ti­ve zu nutzen. 

        Bei den Recher­chen habe ich dann eine Men­ge hin­zu­ge­lernt. Das war sehr berei­chernd und hat viel Spaß gemacht, aber noch mehr Spaß macht mir zu sehen, wie gut der Roman schon jetzt ange­nom­men wird. 

        Noch mal herz­li­chen Dank für die tol­le Rezen­si­on und vie­le Grüße! 

        T. A. Wegberg

        Antworten
  2. Nanni

    Hal­lo,

    das Buch klingt ja sehr gut. Das wer­de ich auf mei­ne Wunsch­lis­te set­zen. Dan­ke für den Tipp :)

    Lie­be Grüße
    Nanni

    Antworten

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