“Meine Mutter, sein Exmann und ich” von dem deutschen Autor T.A.Wegberg verblüfft mit einem überraschenden Titel, der einen erst einmal stutzig werden lässt. Wenn man weiß, was die Hauptthematik des Buches ist, erklärt sich auch dieser. Eine Geschichte über Transsexualität, Angst vor Ausgrenzung und über Freundschaft. Aus der Sicht eines Jungen erzählt, dessen Mutter auf einmal zum Mann wird. Unglaublich unterhaltsam und interessant erzählt! Ein sehr gelungener Roman über ein Tabuthema, der sich bestens als Schullektüre oder für eine Buchvorstellung eignet. Für Jugendliche ab 14 Jahren und Erwachsene.
Berlin. Der 10-jährige Joschka fällt aus allen Wolken, als seine Mutter ihm und seiner Zwillingsschwester Liska eines Tages offenbart, dass sie keine Frau mehr sein und als Mann leben möchte: “Aber du hast doch nie was gesagt! ” “Nein, natürlich nicht! Was hätte ich denn sagen sollen? Dass ich mich nie als Frau gefühlt habe? Dass ich total unglücklich mit meinem verdammten Körper bin? Ich konnte das doch gar nicht erklären. Ich wollte es ja nicht mal wahrhaben!” Mama wischte sich eine Träne von der Wange…” (Zitat S.6) Doch Joschkas Mutter meint es ernst und leitet alle erforderlichen Schritte dafür in Bewegung. Sie beginnt eine Therapie, um von der Krankenkasse ein Gutachten zu bekommen, die ihr weitere Behandlungen ermöglichen. “Ich verkroch mich in meinem Zimmer, spielte Minecraft und fühlte mich von der Welt verraten. Wen hatte ich denn jetzt noch? Papa war schon vor drei Jahren ausgezogen, der war jetzt mit Petra verheiratet, und die kriegte demnächst ein Baby. Mama wollte nicht mehr unsere Mama sein. Und zum ersten Mal hatte auch Liska mich im Stich gelassen, meine Zwillingsschwester, auf die ich mich in den zehn Jahren unseres gemeinsamen Lebens immer hatte verlassen können.” (Zitat S.7) Jetzt — fünf Jahre später — steht die entscheidende, abschließende Operation an. Und Joschkas Mutter heißt auf einmal Frederick. Längst wohnt der Junge nicht mehr zu Hause, ist zu seinem Vater und dessen neuen Frau mitsamt Sohn gezogen, obwohl Letztere ihn dort nicht wirklich willkommen heißt. Seinen Freunden, allen voran Boris, seinem besten Freund, hat Joschka nichts von der Wandlung seiner Mutter erzählt. “Boris hat Mama das letzte Mal vor fünf Jahren gesehen. Na ja, so ganz stimmt das nicht: Eigentlich sind sie sich letzten Sommer begegnet, in der U‑Bahn, als ich mit ihr vom Zahnarzt gekommen bin und Boris plötzlich zugestiegen ist. […] Ich bin sofort aufgestanden und hab mich ein paar Meter von Mama entfernt hingestellt, und er hat nichts gemerkt. Wir mussten alle an derselben Station aussteigen. Ich bin mit Boris gegangen, und meine Mutter ist mit einigem Abstand hinterhergelaufen.” (Zitat S.13) Joschka schämt sich für seine Mutter, und was sollen eigentlich die anderen von seiner Familie denken? Niemals darf jemand etwas davon erfahren. “Ich bin wütend auf Mama, weil sie nicht einfach Mama bleiben konnte. Ich bin wütend auf Liska, die das nicht nur widerspruchlos hinnimmt, sondern sogar noch unterstützt. Ich bin wütend auf mich selbst, weil ich nicht ebenso gelassen wie sie damit umgehen kann.” (Zitat S.111) Doch eines Tages hat er einen Unfall bei Boris zu Hause und sein Vater kann ihn nicht abholen. Allmählich merkt Joschka, dass es immer schwieriger wird, sein Geheimnis vor den anderen zu verbergen. Vor allem als er der engagierten, taffen Emma näher kommt und in dem neuen Mitschüler Sebastian unerwartet einen Freund findet…
“Meine Mutter, sein Exmann und ich” ist durchgehend aus Joschkas Sicht in der Ich-Perspektive geschrieben. Der Roman startet mit einem Prolog, der fünf Jahre zuvor einsetzt und schildert, wie seine Mutter erstmals offenbart, wie sie sich fühlt und was sie vor hat zu tun. Eine Entscheidung, die Joschkas komplettes Leben auf den Kopf stellt. Hier zeigt sich rasch, wie gut es dem Autoren gelingt, auch widersprüchliche Gefühle äußerst realistisch darzustellen. Wie Joschka sich beispielsweise überlegt, was wäre, wenn seine Mutter die Operation nicht überleben würde: “Mit einer toten Mutter kann man sich nicht blamieren, so viel steht fest. Man wird bloß bedauert. Und nie würde jemand an meiner Schule oder einer von meinen Freunden erfahren, dass meine Mutter seit zwei Jahren Frederick heißt und sich morgens rasiert. Aber dann stelle ich mir ein Leben ohne Mama vor. Sie ist die Einzige, die ein Käse-Ei-Baguette wirklich so belegen kann, wie ich es mag, die jederzeit weiß, wo ich mein Handy hingelegt habe, die sich die Namen meiner Lehrer (und die von Liskas Lehrern) merken kann, die meinen Stundenplan auswendig kennt und die mitten in der Nacht zur Apotheke fährt, um mir was gegen Zahnschmerzen zu kaufen.” (Zitat S.16) Gerade dieser Zwiespalt, dieses Vermissen der Mutter einerseits, aber auch die Besorgnis und Ablehnung andererseits, lesen sich sehr berührend. Man kann sich hervorragend in Joschka hineinversetzen und durchlebt mit ihm seinen schulischen Alltag, seine Verabredungen mit seinen Freunden und den Tanz auf dem Drahtseil. Ein falscher Schritt und das Lügengerüst, das er sich mühsam aufgebaut hat, wird in sich zusammenstürzen. Zugleich leistet “Meine Mutter, sein Exmann und ich” auch inhaltliche Aufklärungsarbeit, räumt mit Vorurteilen auf und informiert: “Transsexuelle wollen nicht einem anderen Geschlecht angehören”, doziert Liska. “Sie tun das schon. Sie kommen schon so auf die Welt. Nur eben leider im falschen Körper. Und das ist keine Krankheit. Genauso wenig wie schwul zu sein. Es ist einfach angeboren, da kannst du nichts gegen machen.” Würde ich aber, wenn ich könnte. “Und warum müssen die dann alle eine Therapie machen?”, triumphierte ich. “Das ist einfach nur gesetzlich vorgeschrieben, damit sie das Gutachten für die Krankenkasse kriegen. Und damit irgendwelche labilen Leute nicht denken, sie könnten auf diese Weise ihre Probleme in den Griff kriegen, obwohl sie eigentlich gar nicht transsexuell sind.” (Zitat S.11) Die größte Stärke des Autors hingegen ist seine flüssige Erzählweise. Ganz ehrlich: der Roman war durchweg interessant und sehr unterhaltsam geschrieben. Langeweile? Fehlanzeige. Selbst kleine Alltagsanekdoten, bei denen nicht viel passiert, schildert er abwechslungsreich und fesselnd. Das Ende hätte sogar noch ein bisschen ausführlicher sein können;-)
Wenn dir “Meine Mutter, sein Exmann und ich” gut gefallen hat, kannst du auch noch die anderen Reality-Romane von T.A. Wegberg lesen (chronologisch nach Erscheinungsdatum): “Memory Error: Oder wie man Vater über den Jordan ging” (2009), “Herzbesetzer” (2010), “Klassenziel” (2012, toll!), “Ich kannte kein Limit: Meine Leben mit dem Alkohol” (2014, zusammen mit Sascha K.), “Du weißt es nur noch nicht” (2014), “Grenzverletzungen: Eine Geschichte über Borderline, Freundschaft und Abhängigkeit” (2015). Zum Thema Transsexualität gibt es im Jugendbuch bisher nur wenige Alternativen: “Zusammen werden wir leuchten” von Lisa Williamson und “George” von Alex Gino (hier wird aus der Sicht eines Jungen erzählt, der sich eigentlich als Mädchen fühlt) und “Jenny mit O” von Karen-Susan Fessel (hier ist es genau anders herum). Zum Thema Intersexualität gibt es ebenso einen Titel derselben Autorin: “Liebe macht anders” und eine Neuerscheinung aus diesem Jahr von Christine Fehér: “Weil ich so bin”. Als gute Alternative könnte ich mir ebenso “Die Ballade von der gebrochenen Nase” von Arne Svingen und “Ben Fletchers total geniale Maschen” von T.S. Easton vorstellen, in denen ein Junge lernen muss sich selbst zu stehen beziehungsweise manche Dinge zu anzunehmen.
Bibliografische Angaben: Verlag: Rowohlt ISBN: 978-3-499-21759-3 Erscheinungsdatum: 10.März 2017 Einbandart: Broschur Preis: 12,99€ Seitenzahl: 256 Übersetzer: - Originaltitel: - Originalverlag: - Originalcover: -
Kasimiras Bewertung:
(4,5 von 5 möglichen Punkten)
Wow, was für eine tolle Rezi! Freut mich total! Danke schön!
Darf ich die auf meinem Blog verlinken?
T. A. Wegberg
Hallo Herr Wegberg,
vielen Dank für Ihren Beitrag — den Autoren selbst unter den Kommentatoren zu haben, ist immer super:-) Klar, dürfen Sie die Rezension verlinken. War aber auch ein tolles Buch! Wie sind Sie eigentlich auf dieses besondere Thema gekommen?
Viele Grüße
Kasimira
Hallo Kasimira,
vielen Dank! Ich habe gleich mal einen eigenen Blogbeitrag geschrieben und Ihren darin verlinkt: http://tawegberg.blogspot.com/2017/03/die-ersten-rezensionen-zu-meine-mutter.html
Das Thema meines neuen Romans war tatsächlich ein Vorschlag meines Verlags, der mir aber bei der Umsetzung völlig freie Hand gelassen hat. Außenseiterthemen passen sehr gut in mein “Beuteschema”, deshalb musste ich nicht lange überlegen. Etwas mehr Gedanken habe ich mir dann über die Struktur gemacht. Es gibt schon einige Bücher über transsexuelle Jugendliche, aber noch keine über Jugendliche mit transsexuellen Eltern — und so traf ich die Entscheidung, diese etwas andere Perspektive zu nutzen.
Bei den Recherchen habe ich dann eine Menge hinzugelernt. Das war sehr bereichernd und hat viel Spaß gemacht, aber noch mehr Spaß macht mir zu sehen, wie gut der Roman schon jetzt angenommen wird.
Noch mal herzlichen Dank für die tolle Rezension und viele Grüße!
T. A. Wegberg
Hallo,
das Buch klingt ja sehr gut. Das werde ich auf meine Wunschliste setzen. Danke für den Tipp :)
Liebe Grüße
Nanni