“Flügel aus Papier” des polnischen Autoren Marcin Szczygielski ist ein Kinderbuch, das den Holocaust zum Thema macht und dessen Hauptfigur tatsächlich existiert hat, auch wenn der Autor noch ein wenig seine Fantasie hat spielen lassen. Ein bewegender Roman über das Leben in einem polnischen Ghetto, einen Großvater, der für seinen Enkel alles tut, Freundschaft und Menschlichkeit. Jetzt neu als Taschenbuch erschienen. Für Kinder ab 10 Jahre und Erwachsene.
1942. Der 8‑jährige Rafal lebt mit seinem Großvater in Warschau. In einem Ghetto. Und das schon seit einiger Zeit. Seine Eltern sind nach Afrika ausgewandert, um dort ein Haus zu bauen. Sie wollten Geld schicken, damit Rafal und sein Großvater nachkommen könnten. Doch dann kam der Krieg dazwischen. Anfangs kamen noch Briefe. Später hat man die Post nicht mehr in das Ghetto hineingelassen. “Mir kommt es so vor, als habe ich schon immer hier gelebt. Als wäre der Bezirk schon immer da, als gebe es schon immer zu wenig zu essen und zu viele Menschen. Als wäre schon immer Krieg und als dürfe man unter keinen Umständen vergessen, sich zu fürchten, selbst wenn man gar keine Angst hat.” (Zitat aus “Flügel aus Papier” Seite 28). Rafals Großvater, der früher ein sehr bekannter Geiger war, spielt oft auf der Straße, um ihnen den Lebensunterhalt zu sichern. Seine Geige ist sehr wertvoll, sie ist der kostbarste Gegenstand, den er noch hat. Einmal wollte sie ihm jemand für viel Geld abkaufen, aber Rafals Großvater hat abgelehnt. Jetzt möchte er, dass sein Enkel “in die Ferien fährt”. Außerhalb des Ghettos soll er bei einer Frau unterkommen, auf einem Bauernhof. Rafal werden die Haare gebleicht, damit er anders aussieht. Er muss sich eine Geschichte merken, wo er eigentlich herkommt. Dabei möchte er eigentlich bei seinem Großvater bleiben. Eine Frau namens Stella führt ihn schließlich auf verschlungenen Wegen auf die andere Seite. Der Preis dafür: Großvaters Geige… Doch etwas geht schief und der Bauernhof, auf dem Rafal wohnen sollte, kommt als Bleibe für ihn nicht mehr in Frage. Stella bringt ihn in einen geheimen Keller unter einem Zebragehege in einen ehemaligen Zoo. Aber obwohl sie versprochen hat wiederzukommen, taucht sie einfach nicht mehr auf und Rafal bekommt auch noch hohes Fieber…
“Flügel aus Papier” ist durchgehend aus Rafals Sicht in der Ich-Perspektive geschrieben. Die ersten paar Seiten des Romans fand ich ein bisschen zäh für den Anfang eines Buches, als Rafal auch wirklich jede Straße und jede wichtige Station auf seinem Weg in die Bibliothek beschreibt. Doch die Ausdauer lohnt sich, folgt man den Gedankengängen des Jungen: “Es soll einmal gar nicht so wichtig gewesen sein, wo jemand herkam, sondern es zählte nur, was er für ein Mensch war. Jeder wohnte, wo es ihm gefiel, ganz egal, wie er hieß, woran er glaubte oder welche Farbe seine Haut, seine Haare oder seine Augen hatten.” (S. 27) Es ist erschreckend zu lesen, dass Rafal nur diese eine Zeit kennt. Und es ist bemerkenswert wie sein Großvater ihn vor den Bedrohungen des Krieges zu schützen versuchte: “…ich hatte überhaupt keine Angst vor Ihnen [den Bomben]. Großvater nahm mich mit in den Keller, aber er sagte, das wäre ein Spiel, und er lachte, also lachte ich auch. Wenn in der Nähe eine Bombe einschlug, alles erzitterte und es von der Kellerdecke rieselte, sagte Großvater, die Riesen spielten Ball und es sei wahrhaftig ein Kreuz mit ihnen.” (S. 27⁄28).
Rafal liebt das Lesen und als Leser folgt man ihm auf seinem Weg zur Bibliothek, ein Highlight für den Jungen. Dort gibt die Bibliothekarin dem Jungen, der schon Jules Verne liest und auch richtig dicke Schmöker, ein ganz neues Buch: “Die Zeitmaschine” von H.G. Wells. Dieses Buch wird Rafal für immer prägen. Denn er verknüpft gedanklich die Welt H.G. Wells, in der die schönen Eloi und die bösen Morlocken leben, welche Erstere nur züchten, um sie dann zu fressen, mit der Jetzt-Zeit. Für ihn sind er und die Menschen, die in dem Ghetto leben die Eloi und die Morlocken sind die deutschen Soldaten und SS-Männer. So schafft es Rafal sogar seine beängstigende Flucht aus dem Bezirk mit ganz anderen Augen zu sehen. Er stellt sich vor, er sei selbst in einer Zeitmaschine unterwegs und auf einer spannenden Expedition. Und da gibt es einige Dinge “außerhalb”, die er noch nie gesehen hat. Ob es nun Zuckerwatte ist oder einen großen Fluss, über den er mit Stella geht. In dem Zoo findet er schließlich auch zwei Freunde, die sich um ihn kümmern und mit denen er gemeinsam den gefährlichen Alltag besteht. Das Ende zeigt eine raffinierte Wendung und — ein Happyend. Es ist zugleich ein Plädoyer dafür nicht zu vergessen, was geschehen ist, um zu verhindern, dass so etwas Schreckliches erneut geschieht. Im Nachwort stellt die erste Leserin des Buches (ein Kind) Fragen an den Autor über die Geschichte, was sehr lehrreich und informativ für jüngere Leser ist.
Wenn dir “Flügel aus Papier” gefallen hat, kannst du noch “Der Junge im gestreiften Pyjama” von John Boyne (ab 12) lesen, ein Klassiker über den Holocaust. Wobei die Sicht des jenes neunjährigen Jungen noch naiver ist angesichts des Schreckens jener Zeit als Rafals. Eine inhaltlich passende Alternative wäre auch die “Einmal” von Morris Gleitzman, in dessen Buch ein neunjähriger ebenfalls polnischer Junge, der Jude ist mit den Schrecken im Jahre 1942 umgehen muss. Hierbei gibt es zwei Fortsetzungen: “Dann” und “Jetzt” (alle drei Titel ab 11). Sehr bewegend fand ich ebenfalls “Der Klang der Hoffnung” von Suzy Zail (ab 13) und “Ich habe den Todesengel überlebt” von Eva Mozes Kor und Lisa Rojany Buccieri (ab 12).
Bibliografische Angaben: Verlag: Fischer Sauerländer ISBN: 978-3-7335-0127-3 Erscheinungsdatum: 24.August 2017 Einbandart: Taschenbuch Preis: 7,99€ Seitenzahl: 288 Übersetzer: Thomas Weiler Originaltitel: "Arka czasu czyli wielka Rafala od kiedys przez wtedy do teraz i wstecz" Originalverlag: Stentor Polnisches Originalcover: Deutsches Originalcover:
Kasimiras Bewertung:
(5 von 5 möglichen Punkten)
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