Die deutsche Autorin Jutta Wilke wagt sich in ihrem neuen Roman “Roofer” an ein ganz besonderes und im Jugendbuch bisher unbekanntes Thema heran: Roofing — “ein Extremsport […], bei dem meist Jugendliche und junge Erwachsene ohne Sicherung auf hohe Bauwerke oder Gebäude klettern, um sich dort zu fotografieren oder zu filmen” (Wikipedia) Brillante Unterhaltung, die nicht nur thematisch, sondern vor allem spannungsmäßig absolut zu überzeugen weiß. Aber Vorsicht: Es geht hoch hinaus! Schwindelfrei zu sein erleichtert das Lesen ungemein;-) Für Jugendliche ab 14 Jahren und Erwachsene.
Frankfurt am Main. In Alices Leben ist es nicht immer einfach. Ihr Vater ist an einer Krankheit gestorben, als sie noch ein Kind war und ihre nach Harmonie und Sicherheit gierende Mutter hat sich an einen neuen Mann gebunden, der sie nur belügt und betrügt. Einzig ihre Freundschaft zu Nastasia, die alle nur Nasti nennen, ist ein Lichtblick in ihrer kleinen Welt: “Ich hätte bei Nasti bleiben sollen. Solange ich mit ihr zusammen war, fühlte ich mich gut. Frei und stark irgendwie. Und ungebunden. Aber sobald ich in unsere Straße einbog, war dieses Gefühl weg. Es war, als ob eine graue Wolke unser Haus und alle, die darin lebten, einhüllte. Eine Wolke aus Traurigkeit. Und aus Angst.” (Zitat aus “Roofer” S.27) Doch dann zeigt Nasti ihr ein erschreckendes Video von sogenannten “Roofern”, die die höchsten Gebäude der Stadt erklimmen und sich bei diesen waghalsigen Aktionen filmen. Einen von ihnen kennt sie bereits: Trasher. “Ich habe ihn beim Skaten kennengelernt. Unten am Main. Na ja, eigentlich habe ich ein paar seiner Kumpels getroffen. Aber Trasher war auch da. Er hat mir ’ne Cola spendiert.” (Zitat S.22) Ein wenig enttäuscht muss Alice feststellen, dass ihre Freundin mit diesem Trasher sogar zusammen zu sein scheint. Dass sie die Clique um ihn herum schon länger kennt, ohne ihr davon erzählt zu haben. Und sie bekommt zwangsläufig mit wie gefährlich die Aktionen der Gruppe sind, als Nasti sie eines Nachts auf ihrem Handy anruft und um Hilfe bittet. Zwei der miteinander konkurrierenden Jugendlichen haben sich zum waghalsigen Klettern um die Wette zusammengefunden. “Ich schüttelte nur stumm den Kopf. Dass die Roofer verrückt waren, war mir schon seit gestern klar. Aber das hier war mehr als nur verrückt. Das war lebensmüde. Vollkommener Wahnsinn. Und alle schauten dabei zu.” (Zitat S.86) Eigentlich will Alice sich von der Clique und deren Höhenflügen distanzieren, doch dann lernt sie Nikolas kennen, der auf der Straße lebt und ebenfalls gelegentlich mit Trasher und seinen Leuten klettert…
“Roofer” ist nicht nur der Roman einer Freundschaft und einer Liebe, sondern vor allem der eines brandaktuellen Themas: Roofing. Mühelos gelingt es Jutta Wilke dieses bisherige Tabuthema im Jugendbuch in eine fesselnde Geschichte zu packen. Und das ist das Buch definitiv: fesselnd. Gleich von Anfang an packt einen die Erzählung, nimmt einen gefangen und fühlt sich bisweilen an wie pures Adrenalin, das durch die Adern strömt! Es gibt kaum eine Sekunde zum Luftholen, ständig passiert irgendetwas! Bereits der atmosphärische Prolog offenbart mit seinen Andeutungen — da ist etwas Furchtbares geschehen: “Einen Moment herrscht Stille. Totenstille. Und dann… lauter als alles andere auf der Welt… das klatschende Geräusch eines Körpers, der auf Asphalt knallt. Dann ist da nichts mehr. Einfach nichts.” (Zitat S.12) Und die Protagonistin, die sich tröstend um ihre Freundin kümmert und mit ihrem schlechten Gewissen kämpft: “Ich hätte es verhindern müssen. Ich hätte irgendetwas tun müssen, um es zu stoppen. Man muss doch etwas tun. Man konnte doch nicht einfach nur zusehen. Aber genau das habt ihr getan, flüstert die Stimme in mir. Ihr habt zugesehen. Alle. Immer wieder.” (Zitat S.10ff) Was ist geschehen? Wer ist da auf den Asphalt geknallt? Dann setzt der Hauptteil ein mit den Worten “Einige Tage zuvor”, um am Ende wieder an das Erzähldatum des Prologs anzuknüpfen. Berichtet wird die Geschichte hauptsächlich in der Ich-Perspektive aus Alices Sicht. Aber es kommt zuweilen auch Nikolas Blickwinkel hinzu, in personaler Sicht und in kursivem Schriftbild gehalten, der die Geschehnisse perfekt ergänzt. Die Sprache ist angenehm, äußerst flüssig zu lesen und manchmal sogar schön poetisch und kraftvoll. Das Ende ist passend und zeigt, nicht nur dass dies ein Roman über Angst und Mut ist, sondern auch, dass sich Schwäche einzugestehen (dass man Angst hat), manchmal auch eine Stärke sein kann.
Fazit: Ein gelungener Höhenflug mit inhaltlichem Tiefgang und einer großen Portion Adrenalin!
Wenn dir Jutta Wilkes Art zu schreiben gefällt, hast du noch die Möglichkeit ihre anderen Romane zu lesen. Was mir bei ihr immer gut gefällt, ist, dass die Autorin sich extrem vielseitig präsentiert und höchst unterschiedliche Werke bietet. Mal schön romantisch und flott wie in“Herzschlagzeilen” oder in “Bitte zweimal Wolke 7”, mal sehr spannend wie in “Schwarz wie Schnee” oder in dem genialen “Wie ein Flügelschlag”, aber auch literarisch und mit Tiefgang wie in “Dornenherz”. Sie schreibt auch unter dem Pseudonym Alex Haas und hat bisher zwei witzige Bücher für Jungs veröffentlicht: “Die inneren Werte von Tanjas BH” und “Touchdown! Ran an die Bälle!”. Inhaltliche Alternativen gibt es zum Thema “Roofing” leider nur in der Erwachsenenbelletristik: “Am Boden” von Lucie Flebbe. Eine eventuell ebenfalls interessante “Sportart”, die Parallelen zum “Roofing” hat, ist jedoch “Parkour”. Hierzu gibt berereits zwei Jugendbücher: “Asphaltspringer” von Rusalka Reh und “Parkour: Nur die Wahrheit ist unbezwingbar” von Andrea Rings. Du liebst das Adrenalin und die Höhe? Dann wären vielleicht auch folgende drei Romane etwas für dich: “Südwand” von Cornelie Kister, “Kein Gipfel zu hoch” von Jordan Romero und “Entscheidung am Mount Everest” von Roland Smith.
Bibliografische Angaben: Verlag: Coppenrath ISBN: 978-3-6496-1509-5 Erscheinungsdatum: Juni 2017 Einbandart: Hardcover Preis: 14,95€ Seitenzahl: 256 Übersetzer: - Originaltitel: - Originalverlag: - Originalcover: - Ein kurzer Bericht über "Roofing":
Kasimiras Bewertung:
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