“Weißzeit” ist das erste Jugendbuch des schwedischen Autoren Christoffer Carlsson — ein noch recht junger Autor, der für seine Erwachsenenkrimis bereits einige Preise erhalten hat. Der Thriller spielt in einem kleinen Dorf in Schweden und erzählt die Geschichte eines Verbrechen, die Angst vor dem Verlust und das Erwachsenwerden eines jungen Mädchens. Rau, eindringlich und sehr direkt erzählt. Für reife Jugendliche ab 15 Jahren und Erwachsene.
Varvet. Die 16-jährige Vega lebt in einem kleinen Dörfchen in Schweden allein mit ihrer Mutter. Der Vater hat die Familie verlassen und ist bereits verstorben. Jakob, ihr drei Jahre älterer Bruder, ist auch ausgezogen, weil er sich mit der Mutter zu oft gestritten hat. Er wohnt in einer Wohnwagensiedlung in einer Unterkunft, die so niedrig ist, dass er sich manchmal den Kopf an der Decke anstößt. Doch jetzt ist Jakob seit kurzem ebenfalls verschwunden: “Die Polizei sucht meinen Bruder. Außer meiner Mutter war er im Grunde genommen die einzige Verbindung zu irgendetwas von Bedeutung, die ich besaß, und ich wusste nicht, was ich tun sollte, wie ich klarkommen sollte, wenn sie ihn einkassieren würden.” (Zitat S.13) Wo ist Jakob hin? Vega macht sich auf die Suche nach ihm. Und sie erinnert sich. An die nicht immer ganz legalen Lieferantentouren durch das Dorf, zu denen er sie mitgenommen hat. Wenn Jakob den selbst gebrannten Schnaps seines Onkels vertickte oder auch mal ein (wahrscheinlich geklautes) Möbelstück irgendwo abholte. Denn bei einer dieser Liefertouren ist etwas ganz anderes mitgenommen worden. Etwas, das vorher menschlich war und dann auf einmal tot und voller Blut. Und dann wird ein Mann aus dem Dorf vermisst…
“Weißzeit” brilliert mit einem wirklich wunderschönen Cover, das allein optisch schon ein echter Hingucker ist. Da hat der deutsche Dressler Verlag aus der Vorlage richtig was herausgeholt! Selbst im Inneneinband setzt sich das Waldmotiv fort. Ins raue, kühle Schweden wird der Leser im Buch entführt, in ein Dorf, in dem vieles vorherbestimmt ist: “In Varvet erbt man alles: sein Haus, seine Art zu leben und seine Loyalitäten. Man hat die Vergangenheit im Blut, ob man will oder nicht.” (Zitat S.18) Dörfliche Konflikte zwischen einzelnen Familien werden da auch gleich auf die nächste Generation übertragen. Und in der entfernten Schule, in die Vega geht, wird hinter hervorgehaltener Hand über sie und ihre Mitmenschen heimlich gesprochen: “In ihren Augen waren wir die Kinder der gescheiterten Bauern und der verbitterten Kätner, der Schwarzbrenner und der Hehler.” (Zitat S.33). Vega selbst ist ein eher ungewöhnlicher Charakter, zu dem man leider nur schwer eine Beziehung aufbauen kann, da sie etwas unsympathisch und manchmal leicht (gefühls-)kalt wirkt. Ein verunsichertes, aber gleichzeitig auch taffes Mädchen, geprägt von ihrer Außenwelt, die Whiskey trinkt, zu viel raucht und schon mal daran denkt, die Schrotflinte herauszuholen, wenn die Polizei anklopft. Auch ihre erwachende Sexualität wird in dem Roman sehr deutlich beschrieben: “Das Einzige, was ich wusste, war, dass ich nie zuvor gesehen hatte, wie zwei Menschen Sex hatten, zumindest nicht in der Wirklichkeit, und dass irgendetwas in mir geweckt worden war. Etwas, das sich nicht wieder einschläfern ließ. […] Aber von diesem Morgen an wollte ich bestimmte Jungs jedes Mal, wenn ich sie sah, anfassen. Wollte fühlen, wie sie nach mir griffen. Es war schwer zu beschreiben.” (Zitat S.37) Sexualität wird in “Weißzeit” generell sehr offenkundig beschrieben: Es gibt Szenen, in denen von Selbstbefriedigung die Rede ist; Szenen, in denen Vega ihre eigenen, ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht macht; aber auch Momente, in denen sie selbst sexuell belästigt, beleidigt oder als “Schlampe” bezeichnet wird. Selbst die Mutter, die als Bedienung in einem Lokal arbeitet und ihren Körper als Kapital sieht ( “…legte sie eine Hand auf ihren Hintern und die andere auf eine ihrer Brüste und drückte zu, lachte und sagte: “Die hier müssen gut zu sehen sein, denn die bezahlen unsere Rechnungen.” (Zitat S.17)), selbst diese beobachtet Vega unerwartet eines Nachts bei sexuellen Handlungen mit dem viel jüngeren, besten Freund von Jakob. Spröde, eindeutig und ohne zu verschönern — so zeigt sich “Weißzeit”. Gleichzeitig aber auch wieder sehr atmosphärisch und kühl: “Das Gras stand hoch, und die Halme wurden zu Wänden und streckten ihre Spitzen nach mir aus, als wollten sie mich berühren. Der Morgen dehnte sich, aber die Sonne zeigte sich nicht, stattdessen war der Himmel weiß wie Milch und weit bis zu den Wolken.” (Zitat S.26) Die Geschichte wird in relativ kurzen Kapiteln durchgehend aus Vegas Sicht in der Ich-Perspektive erzählt und besteht aus einem Geflecht aus Erinnerungen an vergangene Erlebnisse mit ihrem Bruder, ihrer eigenen Entwicklung und der Suche nach der Wahrheit. Denn etwas weiß das junge Mädchen, das zeigen vereinzelte Andeutungen wie diese: “Ich stand auf und ging rein, fest entschlossen, sie, wenn nötig, weiter anzulügen.” (Zitat S.13) Wenn auch scheinbar nicht alles. Die Wahrheit darf man gemeinsam mit der Protagonistin herausfinden. Schritt für Schritt. Bis zum bitteren Ende. Die Spannungskurve ist nicht mäßig gezeichnet, aber das Ende liest sich dann doch recht dramatisch. Der Titel klingt toll, hat sich inhaltlich für mich allerdings nicht erschlossen.
Fazit: Eine Geschichte, die anders ist und schonungslos.
Eine sehr gute Lesealternative zu “Weißzeit” ist “Und plötzlich war der Wald so still” von Moa Eriksson Sandberg, ebenfalls einer schwedischen Autoren, die über das Erwachsenwerden erzählt ohne auszublenden und in dem ein junges Mädchen verschwunden ist. Noch mehr schwedische Autoren entdeckst du hier. Ein Verbrechen in einem kleinen Dorf, das findest du auch in “Kein einziges Wort” von Andreas Jungwirth und in “Isegrim” von Antje Babendererde. In letzterem spielt der Wald eine große Rolle, ebenso wie in “In einer Sommernacht wie dieser” von Tanja Heitmann, die einen Mordfall präsentiert, inklusive Liebesgeschichte. Sehr viel Sexualität findest du in “Turn me on” von norwegischen Autorin Olaug Nilssen.
Bibliografische Angaben: Verlag: Dressler ISBN: 978-3-7915-0059-1 Erscheinungsdatum: 25.September Einbandart: Hardcover Preis: 14,99€ Seitenzahl: 224 Übersetzer: Susanne Dahmann Originaltitel: "Skapar Oktober är den kallaste månaden" Originalverlag: Gilla Böcker Schwedisches Originalcover: Amerikanisches Cover:
Kasimiras Bewertung:
(3,5 von 5 möglichen Punkten)
------------------------------------------ Schwedisches Cover: Homepage von Gilla Böcker Amerikanisches Cover: Homepage von Penguin Books